Donnerstag, November 08, 2018

Interreligiöser Rundbrief für Bonn und Umgebung 2018-4 (07./08.11.2018)


„Das Gefährlichste auf der Welt sind eben die Weltanschauungen. Nicht Krankheiten, Seuchen und Katastrophen.“
                               Jons Ehrenreich Jeromin[1]


Liebe Leser*innen,

Jons Ehrenreich Jeromin ist die Hauptperson in Ernst Wiecherts zweiteiligem Roman „Die Jeromin-Kinder“. Er ist also eine fiktive Figur, in die Ernst Wiechert aber sicher einiges von sich selbst hineinprojiziert hat. Er wächst zu Beginn des 20. Jahrhundert im ostpreußischen Dorf Sowirog als Sohn eines Köhlers und einer stets unzufriedenen, aus Litauen stammenden Mutter auf. Ein Stipendium seines Dorfschullehrers Stilling ermöglicht es Jons, in der Provinzhauptstadt das Abitur zu machen und Medizin zu studieren. Zwischen Schule und Studium ist er Soldat im I. Weltkrieg. Das Studium schließt er mit Auszeichnung ab, aber zur großen Enttäuschung seiner Professoren verzichtet er auf eine weitere Karriere und wird stattdessen Armenarzt in seinem Heimatdorf, wo er seine Leute medizinisch versorgt und so manches Leben verlängert. Ich bin mit dem zweiten Buch noch nicht durch, aber allmählich werden darin die Zeichen der „neuen Zeit“ deutlich, nämlich der aufkommenden Naziherrschaft und des damit verbundenen weltanschaulichen Wahnsinns.


Ernst Wiechert

Ernst Wiechert schrieb den ersten Band 1940/41 und den zweiten 1946. Den ersten Band vergrub er im Garten, damit die Gestapo ihn nicht finde. Er war nämlich 1938 für ein paar Monate im KZ Buchenwald inhaftiert, weil seine Literatur zu regimekritisch war. Allein Wiecherts große Beliebtheit im Volk brachte Goebbels dazu, in wieder zu entlassen, mit der Auflage, sich nicht mehr politisch zu äußern. Wiechert entwarf mit Sowirog das Bild eines Dorfes, dessen Einwohner seit Jahrhunderten das gleiche Leben führen, die Felder bestellen, Holz fällen, Fische fangen und ab und zu ein Kaninchen wildern, sich aber nicht um das Leben „jenseits des Moores“ kümmern und die Bilden und Unbilden von Wetter und Politik gleichermaßen stoisch und voller Gottvertrauen über sich ergehen lassen. Für diese Einwohner ist es unerheblich, ob Deutschland ein Kaiserreich oder eine Republik ist, nur die polnischen und russischen Nachbarn sind ihnen suspekt, weil eben anders, und letztere zudem Feinde im Weltkrieg. Es sind die Jahreszeiten und die harte Arbeit, die ihr Leben bestimmen. Politik und Weltanschauungen sind für sie Dinge, die sie nicht verstehen und gegen deren Werbungen sie immun sind.

Es ist keine heile Welt, die Wiechert da erfunden hat, sondern neben Armut und Krankheit gibt es auch Mord und Todschlag, Trauer und Traumata. Aber wie auch in anderen seiner Romane idealisiert er ein einfaches, bescheidenes Leben, das vor allem der Arbeit und der persönlichen Mitmenschlichkeit gewidmet ist, ohne irgendwelche Ambitionen in Richtung Ruhm und Reichtum. In „Die Jeromin-Kinder“ lässt er den jüdischen Arzt Lawrenz sagen, dass Lehrer und Ärzte seiner Meinung nach am besten gar kein Geld für ihre Arbeit annehmen, sondern zum Gelderwerb nebenher lieber noch einem Handwerk nachgehen oder Schafe hüten sollten.

Warum thematisiere ich Ernst Wichert und seine Romane im interreligiösen Rundbrief? Nun, beim Lesen seiner Texte berührt mich etwas ganz tief. Sie pflügen gleichsam in mein Herz. Und das, obwohl sie eigentlich eine ganz andere Weltanschauung transportieren, als ich selber sie habe, eben eine, die keine sein will, eine die auf Tradition setzt, aber eben nicht als traditionalistische Weltanschauung, sondern als eine Fokussierung auf die Grundbedürfnisse des Lebens, die alleine es Wert sind, ernst genommen zu werden. Wiechert war ein Kritiker der Moderne, was ihm in der Zeit nach dem II. Weltkrieg dann doch nach und nach seine Leserschaft kostete. In der Nazizeit war er trotz Beobachtung durch die Gestapo und KZ-Erfahrung nicht ausgewandert, sondern in die so genannte innere Immigration gegangen und so seinen Lesern, die ja auch nicht auswandern konnten, treu geblieben. Vielen waren seine Bücher Trost und Stütze in der schweren Zeit. Aber als sich später die Jugend politisierte, war er für sie zu unpolitisch, zu rückwärtsgewandt, zu verinnerlicht. Und nun lese ich ihn, anfangs durch seine Märchen auf ihn aufmerksam geworden, und er ist inzwischen einer meiner Lieblingsschriftsteller, neben Hermann Hesse, Michael Ende und Hans Bemmann oder auch, um einen Lebenden zu nennen, Harald Grill.


Liberale und konservative evangelische Theologie

Es ist eine Herausforderung, sich als – wie ich mich empfinde – moderner und liberaler Denker einzugestehen, dass mich da ein so konservativer Autor anspricht. Mich überraschte neulich ein evangelischer Theologe, den ich auch für liberal gehalten habe, mit dem Eingeständnis, er sei nicht liberal, sondern konservativ. Liberale Theologie würde das Christentum auf Ethik reduzieren, aber das sei ihm zu wenig. Mit interreligiösem Dialog könne er auch wenig anfangen, er sei überzeugt von der Wahrheit seines Glaubens und dass die anderen im Irrtum seien, aber stehe doch als Staatsbürger jedem das Recht zu, seinen eigenen Glauben frei zu leben. Nur brauche er sich nicht mit den Andersgläubigen auszutauschen, sondern respektiere einfach ihre Andersgläubigkeit und fertig.


Liberales und orthodoxes Judentum

Wie anders geht es mir! Im Mai nahm ich im Rahmen einer Tagung in Berlin an einem jüdischen Schabbatgottesdienst teil. Es war Samstagmorgen, es wurde in der kleinen Synagoge des Jüdischen Krankenhauses gesungen und gebetet, und ich genoss die zugleich konzentrierte und ausgelassene Stimmung. Die liberale Rabbinerin sagte auf einmal, sie rufe jetzt Wochentage auf, und wer am aufgerufenen Wochentag geboren sei, dürfe nach vorne kommen, und aus der Thora vorlesen, und dabei frage sie nicht danach, wie jüdisch jemand sei. Whow! Ich durfte also in einer Synagoge aus der Thora vorlesen, obwohl ich kein Jude war! Ich tat es nicht, denn mir was das Ritual nicht vertraut, und ich kann kein Hebräisch lesen. Aber ich hätte gedurft! Als aber die Thorarolle durch den Raum getragen wurde, wurde sie von dem anscheinend weniger liberalen Rabbiner nur den jüdischen Gottesdienstteilnehme*innen hingehalten, damit sie sie berührten. An mir und anderen Nichtjuden und -jüdinnen ging er vorbei. Da war also doch eine Grenze, die ich selbstverständlich respektierte. Ich frage später die Rabbinerin, ob sie meine, dass es unterschiedliche psychische Charaktere seien, die sich für das liberale oder das orthodoxe Judentum begeisterten. Sie verneinte es, und meinte, die meisten würden hineingeboren und in beiden Richtungen gäbe es ganz verschiedene Charaktere. Nun ja, meines Wissens gibt es schon Konvertiten in beide Richtungen.


Konservativer und liberaler Islam

Bei einem Moscheebesuch in Bielefeld fragte ich die junge Muslimin, die uns durch die Räume führte – sie hatte in Ankara islamische Theologie studiert – ob es für vegetarische Muslime eine Alternative zum Tieropfer beim Opferfest gebe. Sie verneinte das. Vielleicht kämen die liberalen Muslime auf solche Gedanken, aber das seien nur wenige und die werde es sicher nicht lange geben. Für sie selbst sei das nichts, so mit Männern zusammen in einer Reihe in der Moschee zu beten.


Säkularer Buddhismus

Neulich bei einem Treffen der Buddhistischen Gemeinschaft für Einzelmitglieder der Deutschen Buddhistischen Union war die Rede vom säkularen Buddhismus. Man müsse als Buddhist*in nicht nur von der Welt zurückgezogen meditieren, sondern dürfe oder gar solle sich auch der Welt zuwenden und sich zum Beispiel im Umweltschutz oder in der Friedensarbeit engagieren. Und man bräuchte sich auch nicht einer bestimmten buddhistischen Tradition zu verschreiben oder gar einem Meister unterordnen, sondern könne sich frei aus dem Angebot bedienen, je nachdem, was man brauche und was einem weiterhelfe. Das sei überhaupt der Trend der Zeit, meinte ein Dharmalehrer, den Buddhismus eher individuell zu praktizieren und sich eher ungezwungen mit Gleichgesinnten auszutauschen.


Keine Ideologisierung der Weltanschauung!

Tja, da haben wir es wieder: Religiöse Richtungen in ihrer Unterschiedlichkeit: Traditionalismus, Konservativismus, Liberalismus – Fundamentalismus hatte ich jetzt nicht dabei. Ich finde den Dialog zwischen diesen Richtungen innerhalb der Religionen, aber auch zwischen ihnen inzwischen für spannender und not-wendiger als der zwischen den verschiedenen Religionen innerhalb derselben Ausrichtung oder Geisteshaltung. Und dort wie hier ist es spannend, die je andere Position kennenzulernen. Ich merke in der Beschäftigung, wie sehr ich in mir selbst hier und da Anteile anderer Positionen feststelle, wo ich also traditionalistische, konservative und sogar fundamentalistische Ansichten habe und keineswegs immer nur liberale, wenn letztere auch überwiegen.  Und erst neulich hörte ich in einem Radiobeitrag, dass „Liberalismus“ im Rahmen der evangelischen Theologie zuerst eine abwertende Fremdbezeichnung war.[2] Im Judentum ist es dagegen eine selbstbewusste Hauptströmung, im Islam ein zartes Pflänzchen, im Buddhismus zumindest im „Westen“ so normal, dass man kaum darüber spricht. Sicher meint man mit diesem Wort nicht überall dasselbe und manchmal dasselbe mit verschiedenen Wörtern.

Sind also Weltanschauungen so von Übel, wie Ernst Wiechert es Jons Ehrenreich Jeromin sagen lässt? Ja, wenn man aus ihnen Ideologien macht, die über Leichen gehen oder die die Menschen nur als Objekte der Weltanschauung behandeln und sie in Freunde und Feinde unterteilen. Nein, wenn man sie als Orientierung in den Wirrnissen des Lebens sieht, die dem Menschen dienen und nicht ihn beherrschen will. Eine Weltanschauung in diesem Sinne vertrat auch Ernst Wiechert, und dank der modernen Erfindung des Buchdrucks und der noch moderneren des Internets, liegen seine Texte gedruckt vor und sind auch antiquarisch leicht erhältlich oder auch in Neuauflagen beim Buchhändler am liebsten vor Ort.


Nochmal Wiechert

Ich ende diesen Rundbrief mit noch einem Zitat aus „Die Jeromin-Kinder“. Es ist aus einem Dialog zwischen Jons und seinem Kriegskameraden Tobias, der an der Westfront in den Feuerpausen immer aus dem Schützengraben gestiegen war und die Seligpreisungen aus der Bergpredigt laut vernehmlich rezitiert hatte und der nun Pfarrer in Sowirog wird. Beide sprechen über einen Leutnant, der tödlich verwundet die Wahrheitsfrage gestellt hatte:

„Tobias nickte mit gefalteten Händen. ‚[…] … und auch den Leutnant sehe ich, wie er in seinem Trichter lag und ein bißchen lächelte und zu dir sagte >Wie ist es nun mit der Wahrheit, Jeromin?<‘ Jons seufzte. ‚Ich weiß es wohl immer noch nicht Tobias.‘ ‚Es war eine falsche Frage, Jons, eine Menschenfrage. >Wie ist es nun mit der Liebe, Jeromin?< hätte er fragen sollen. Und darauf hättest Du nicht zu seufzen brauchen.‘“[3]

Ich freue mich auf Ihre/Eure Leser*innenbriefe!       
   
Ihr/Euer Michael A. Schmiedel


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PS: Diesen Rundbrief schrieb ich hauptsächlich am 7.11.2018 auf der Eisenbahnfahrt von Bielefeld nach Siegburg.
PPS: Zwischenüberschriften einzuführen war ein Wunsch von Martin Sagel.
PPPS: Alle meine Rundmails können jederzeit per E-Mail abbestellt werden.



[1] Ernst Wiechert. Die Jeromin-Kinder II = Gesammelte Werke. München 1980 (Georg Müller Verlags GmbH), S. 801.
[2] Vgl. Liberale Theologie und Kirche. „Nicht für Wellness zuständig“. Jörg Lauster im Gespräch mit Andreas Main. Tag für Tag. Aus Religion und Gesellschaft, Deutschlandfunk, 1.11.2018, online: https://www.deutschlandfunk.de/liberale-theologie-und-kirche-nicht-fuer-wellness-zustaendig.886.de.html?dram:article_id=430920 (geöffnet am 8.11.2018).
[3] Ernst Wiechert, a.a.O., S. 812.