Donnerstag, November 15, 2018

Interreligiöser Rundbrief für Bonn und Umgebung 2018-4 – Leser*innenbriefe (15.11.2018)


Liebe Leser*innen des interrel. Rundbriefes,

es kamen drei sehr unterschiedliche Leser*innenbriefe von Ihnen herein. Ich gebe sie zuerst einmal hintereinander wieder und gehe dann auf alle drei ein.

1. Von Helmut Bleifeld aus Neurath:

Danke, lieber Michael, für Deinen Rundbrief, für Deine Gedanken, Stellungnahmen, Kommentare und Denkanstöße.
Als ‚Naturalist‘ habe ich zu den Religionen keine glaubwürdige Überzeugung gefunden. Ich sehe Religionen eher als Produkte der Evolution. So, wie sich das Leben auf unserer Erde entwickelte, so entwickelten sich menschengemacht die Religionen, mit all ihren Facetten wie Machtstreben, Heuchelei, Gewalt, und Unrecht…aber auch mit ehrlichem Glauben, Hilfsbereitschaft, Uneigennützigkeit, Friedfertigkeit und Liebe.
Aus dem Paradies wurden wir vertrieben – nicht zu Unrecht.
Herzliche Grüße
Helmut

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2. Von Reinhold Mokrosch aus Osnabrück:

Mein lieber Michael!
Das ist ein interessanter „Rundbrief“! Ja, wenn Weltanschauungen ideologisiert werden, dann werden sie fundamentalistisch! Heißt das, dass Ideologien immer eine Neigung zum Fundamentalismus haben? Ich meine ja! Und deshalb kommen wir nicht darum herum, liberal sein zu müssen!!
Herzlich, Dein Reinhold aus dem liberalen Osnabrück!

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3. Von Anne-Marie Laurent aus Bonn:

Lieber Michael, als Kind, weil ich viel ältere Geschwister als ich hatte, bin ich mit den Büchern von Ernst Wichert und les enfants Jeromin! großgeworden! Wunderbare Literatur und tiefe Reflexion über diese sehr dunkle Zeit.

Ich war außerdem sehr erstaunt in Deutschland: Keiner hatte ihn gelesen...
Dazu muss ich erwähnen, dass ein Freund meines Vaters hatte Dachau und Buchenwald überlebt und hatte eine Zeit lang bei uns zu Hause nachher gelebt.
Gott sei Dank ist dieser Schriftsteller wieder bekannt.
Wann sehen wir uns? Ganz LG   anne-marie

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Meine Antworten:

Zu 1.

Ja sicher, auch ich sehe Religionen als menschengemacht, als Teil menschlicher Kultur, und die Kultur als Folge der biotischen, psychischen und sozialen Evolution des Menschen. Mit solchen Fragen beschäftigen sich Disziplinen wie Religionsbiologie, -psychologie und
-soziologie. Gerade aktuell haben wir in einer Lehrveranstaltung zu „Anfangsgeschichten der Religionen“ die nach aktueller Auffassung wahrscheinlichen Anfänge menschlicher Religion in Territoriumsmarkierungen durch Schädeldeponierungen im Jungpaläolithikum thematisiert, sowie die Psyche und Gemeinschaft stabilisierende Funktion von Ritualen vor allem in kritischen Lebenssituationen wie den Übergängen von einem Lebensstadium in ein anderes. Die meisten mir bekannten, sich damit befassenden Wissenschaftler*innen gehen von solchen Ursachen für die Religiosität von Menschen aus.
Das bedeutet indes nicht, dass diese Wissenschaftler*innen selber unreligiös oder ungläubig sein müssen. Nicht wenige sind sogar christliche Theologi*innen, so ist Caspar Söling, Autor der biologischen Dissertation „Der Gottesinstinkt“[1] römisch-katholischer und Constantin Klein, Co-Autor des Buches „Götter, Gene, Genesis“ evangelischer Theologe und Psychologe, und Michael Blume, der in seinem religionswissenschaftlichen Blog[2] und mehreren Veröffentlichungen immer wieder Verbindungen zwischen Evolutionsbiologie und Religion erklärt, ist praktizierender evangelischer Christ.
Evolutionsbiologie und religiöser Glaube müssen einander also nicht widersprechen. Viele sehen aber diesen Widerspruch und lehnen dann entweder die Religion oder die Wissenschaft ab, doch moderne, liberale Theologie zeigt, dass das nicht so sein muss.
Freilich ist nicht jede Argumentation jedem Menschen gleich plausibel. Was einem plausibel ist hängt wiederum von vielen Faktoren ab, wie kulturelle Einflüsse, die einen dazu bringen, bestimmte Denkwege zur Gewohnheit zu machen. Diese Einflüsse hängen auch wiederum sehr von der eigenen Biographie ab, und Biographien sind so unterschiedlich wie wir Menschen.

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Zu 2.

Ich empfinde mich ja selber als liberal-religiös. Wohlgemerkt, nicht als wirtschafts-liberal, denn diese Weltanschauung, wonach jeder nur nach seinem eigenen Glück streben soll und als unbeabsichtigter Kollateralnutzen kommt auch etwas Gutes für andere heraus, ist mir zu egoistisch. In manchen Formen sind die Kollateralschäden größer als der Nutzen für die Allgemeinheit.
Aber ja, liberale Religiosität ist mein Ding. Und doch: Müssen wirklich alle liberal sein? Können wir interreligiös und zwischenweltanschaulich nur friedlich miteinander leben, wenn alle liberal sind? Ich habe da noch keine endgültige Antwort darauf. Sicher komme ich mit liberalen Gläubigen verschiedener Religionen und Weltanschauungen leichter gut zurecht als mit sehr traditionalistischen oder gar fundamentalistischen. Und doch weiß ich nicht, ob es mein Ziel sein sollte, Traditionalist*innen und Fundamentalist*innen, solange sie sich friedlich benehmen, zum Liberalismus zu bekehren. Ich versuche lieber erstmal, einen Dialog mit ihnen zu führen, für den die Regel, die Dialogpartner*innen nicht bekehren zu wollen, auch gilt. Ich glaube nämlich auch, dass Liberalismus nicht für jede*n das richtige ist. Manche Menschen brauchen engere Vorgaben und klare Ge- und Verbote. Ohne diese würden sie in Gefahr laufen, in die Beliebigkeit abzurutschen, also eine Scheißegalhaltung den doch auch meiner Meinung nach wichtigen Fragen gegenüber. Liberalismus erfordert eine Gelassenheit, die keine Gleichgültigkeit ist. Er erfordert ein wahrhaftes Streben nach Wahrheit, aber eben verbunden mit der Einsicht, dass auch andere Meinungen als die eigene wahr sein können. Daraus erwächst Respekt dem Anderen gegenüber, nicht nur Toleranz. Aber es bleibt doch die Ernsthaftigkeit der eigenen Wahrheitssuche und auch das Behaupten der als wahr geglaubten Standpunkte. Es ist da eben nicht beliebig, ob etwas wahr ist oder nicht, aber es ist auch nicht rechthaberisch anderen aufzuzwingen. Das ist eine schwierige Haltung, die man nicht einfach von anderen erwarten darf. Gut wäre es aber, Bedingungen zu schaffen, in denen eine solche Haltung entstehen und wachsen kann.

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Zu 3.

Es freut mich, endlich mal nicht der einzige zu sein, der Ernst Wiechert kennt und schätzt! Und wenn es nun eine Französin ist, die meine Wertschätzung dieses deutschen Autors teilt, freut mich das um so mehr. Aber auch ich mache immer wieder die Erfahrung, beim Erwähnen seines Namens, auf Kopfschütteln zu stoßen, nicht weil er nicht gemocht, sondern weil er nicht bekannt ist.
Und dabei wurde er mir auch weder in der Schule noch im Elternhaus nahegebracht, sondern eine Nachbarin lieh mir seine Märchen aus. Das war Anfang der 1980er. Dann fand ich in Antiquariaten zufällig „Die Geschichte eines Knaben“ und „Das einfache Leben“ und die Festschrift zu seinem 60. Geburtstag „Bekenntnis zu Ernst Wiechert“, las die zwei letztgenannten Bücher aber erst kürzlich so 2017. Dann packte es mich aber erneut und über booklooker.de erstand ich „Gesammelte Werke“ in fünf Bänden, darunter „Die Jeromin-Kinder“ und seine zwei „Reden an die Deutsche Jugend“ von 1937 („Der Dichter und die Jugend“) und 1945. Die muss ich noch lesen. Was ich sonst über ihn weiß, habe ich von Wikipedia. Demnach muss er sich ja vom Deutschnationalen zum Kritiker des Nationalismus gewandelt haben und schämte sich dann seines ersten Buches „Die Flucht“, dass er auch nicht mehr aufgelegt wissen wollte, und das demzufolge nur für viel Geld zu haben ist.
Mir geht seine Liebe zum einfachen Leben sehr nahe, seine Ablehnung intellektueller Weltanschauungen bisweilen aber auch etwas zu weit. Aber wenn man bedenkt, was er an Ideologien erlebt und durchlitten hat, kann man das wiederum sehr gut verstehen. Man müsste auch hier, wie so oft, die goldene Mitte finden. Nun war er als Schriftsteller ja selbst ein Intellektueller. Wäre er ein einfacher Bauer oder Arbeiter gewesen, hätte er keine Bücher geschrieben, und uns oder zumindest mir, würden diese Bücher fehlen.

Also herzlichen Dank an meine damalige Nachbarin!

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Übrigens: Ich finde es besonders schön, drei so verschiedene Leser*innenbriefe erhalten zu haben!

Herzliche Grüße nach einem Tag voller intellektueller und doch keineswegs lebensferner Erlebnisse auf einer Tagung über Hirntod und Organtransplantation aus interreligiöser/interkultureller Sicht und im Uni-Alltag, beides in Bielefeld.

Ihr/Euer
Michael A. Schmiedel                  


 
Interreligiöser Rundbrief:
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Folkiger Rundbrief:
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Interreligiöses Friedennetzwerk Bonn und Region:
https://ifn-bonnregion.jimdo.com/

PS: Dies Leser*innenbriefe stellte ich hauptsächlich am 14.11.2018 auf der Eisenbahnfahrt von Bielefeld nach Siegburg zusammen und beantwortete sie.
PPS: Zwischenüberschriften einzuführen war ein Wunsch von Martin Sagel.
PPPS: Alle meine Rundmails können jederzeit per E-Mail abbestellt werden.


[1] Das Buch gibt es online unter http://geb.uni-giessen.de/geb/volltexte/2002/816/ (geöffnet am 15.11.2018).
[2] Siehe: http://www.blume-religionswissenschaft.de/evol.html (geöffnet am 15.11.2018).