Donnerstag, Dezember 05, 2019

Interreligiöser Rundbrief ... Nr. 2019-6 (05.12.2019)


Interreligiöser Rundbrief für Bonn und Umgebung Nr. 2019-6
(05.12.2019)



„Erst in der Rezeption dieses Wissens ist der Interpret in der Lage, den Bestand seiner Begrifflichkeiten und damit den Horizont seines Denkens auf ein anderes Denken hin zu erweitern und etwas Neues zu lernen. Wenn er sich dagegen von den expliziten Mitteilungen in Form von Begriffen und Lehren abwendet und nach regelhaften Strukturen, Funktionen o.Ä. sucht, die ohne das Wissen der betreffenden Menschen ihr Denken bestimmen und erst vom Interpreten expliziert werden, ist er gezwungen, diese Strukturen etc. mit seinen eigenen Begrifflichkeiten zu beschreiben: dabei wird das Andere auf das Eigene reduziert, ohne dass eine Horizonterweiterung stattfindet.“
                                                                                                     Karsten Schmidt[1]

Liebe Leserinnen und Leser,
zum letzten interreligiösen Rundbrief erhielt ich unter anderem folgende zwei Leserbriefe:

1. Oh!!   Lieber Michael.  Das war eine Meisterleistung von dir, sinnvoll und fundiert. Ich kann nur hinzu fügen: Wer an „TOHID“ glaubt und versteht, dass alle Bestandteile der Schöpfung sich gegenseitig brauchen, handelt verantwortungsbewusst zur Erhaltung der Natur und des Friedens unter den Menschen. Ja, die Religion muss die Politik den Weg zur Erhaltung der Umwelt und des Friedens zeigen.
Ich danke dir herzlich, erlaube mir deine Schrift weiterzuleiten
Mit herzlichen Grüßen
Hossein

(von Hossein Pur-Khassalian aus Bonn)
(„TOHID“, auch „Taohid“ oder „Tauhid“ geschrieben, meint die Einheit Gottes in islamischer Terminologie. MAS)

2. Lieber Michael,
leider haben wir schon längere Zeit keinen nennenswerten Kontakt gehabt. […]
Vielen Dank für den Rundbrief und Deine Gedanken zur Verbesserung des zwischenmenschlichen Zusammenlebens.
Du schreibst das, was wir alle wissen sollten, was wir wissen, was wir aber nicht ändern können oder wollen.
Der Mensch, als nicht vorhersehbare Fehlentwicklung in der Evolution, wird sich selbst aussterben lassen.
Mit Gebeten können wir nur unsere Hoffnungen befriedigen, aber keine Weltprobleme lösen.
Ja, auch ich höre fast jeden Morgen den (christlichen) Morgengruß, in der Hoffnung etwas Erbauliches für den Tag zu erhaschen.
Ab und an suche ich in Predigten Antworten zu finden auf Fragen, die bis dato unbeantwortet blieben.
Es wird immer und überall auf Missstände hingewiesen, aber nur wenige Zeitgenossen*innen krempeln die Ärmel hoch und packen die Probleme an.
Wir brauchen Helden aber keine Propheten.
Herzliche Grüße ….ganz besonders an Petra
Helmut

(von Helmut Bleifeld aus Neurath)


Selbstverständlich dürfen meine interreligiösen Rundbriefe weitergegeben werden.

Helden. Das erinnert mich an einen Kollegen in Bielefeld, der an unserer gemeinsamen Bürotür das Schild mit der Aufschrift hängen hatte: Helden zu mir!
Ja so ein Superheld wäre fein, der die Bösewichte aus dem Verkehr zieht und die Ordnung wiederherstellt. Oder einer, der es versteht, die Törichten und Gierigen Mores zu lehren, damit sie einsehen, was sie alles falsch machen. Aber so ein Held wäre ja vielleicht auch wieder ein Prophet.

Wie sieht es aber auch mit unseren Erkenntnissen und unseren Illusionen? Neulich ging ich in meiner Herkunftsstadt Lahnstein einen altvertrauten Weg, ein kleines, steiles Pfädchen, das von der Kölner Straße zwischen zum Teil verwilderten Gärten hindurch hinauf zur Taubhausstraße führt. Ich liebte dieses Pfädchen auch als Jugendlicher sehr und war nun gefühlsmäßig so 38 Jahre in der Vergangenheit, zum Beispiel auf dem Weg von der Schule nach Hause, wo meine Eltern noch lebten und mir ein behagliches zu Hause boten. Es war das damals normale Gefühl, das in mir aufstieg, ein Gefühl von Heimat und Geborgenheit und zugleich von Weite und Zukunft. Damals mit 17 Jahren flog ich mit meinem Bruder in die USA und saß dann mit ihm am Rand des Grand Canyon, die Beine in die Tiefe baumeln lassend, über uns am blauen Herbsthimmel ein kreisender Rotschwanzbussard. Alles vergangen, alles vorbei. Meine Eltern leben schon lange nicht mehr und dieser mein Bruder nun auch nicht mehr. Ich war nun unterwegs zu meiner Schwester, die noch in Lahnstein lebt, und zu meinem anderen Bruder, der an dem Tag auch da war. Mein Kindheitszuhause ließ ich links liegen, aber verdrängte nicht das Gefühl, als sei das alles Gegenwärtig, das ich so sehr genoss, sondern ließ es zu, gab ihm Raum, ließ es wirklich sein, obwohl ich wusste, dass es eine Illusion war, dass es diese Jugend nicht mehr gab und nie mehr geben wird.

Auch neulich fand die Bonner Buchmesse Migration statt. Einen Abend und drei Tage tauchte ich ein in Lesungen, Diskussionen, Gespräche, Musik und zwischenmenschliche Begegnungen verschiedener Art. Ich wählte aus, was mich interessierte, machte Fotos für die Veranstalter, die Evangelische Migrations- und Flüchtlingsarbeit, und genoss das alles einfach. Da war zum Beispiel das Trio Transaesthetics, das bei der Eröffnung eine groovige Mischung aus türkischem und europäischem Jazz spielte. Da waren Georg Schwikart und Jürgen Alt, die über den religiösen Pluralismus unserer Gesellschaft nachdachten. Da war Marion Rissart, die über Schicksale weiblicher Flüchtlinge informierte. Da war Feryad Fazil Omar, der 25 Jahre lang das Epos der Kurden „Mem u Zin“ ins Deutsche übersetzt hat und dieses nun präsentierte. Da war H?d?r Çelik, der über seine Herkunftsheimat Dersim als Geburtsstätte der alevitischen Legenden erzählte. Da war Emel Zeynelabidin, die von ihrer Emanzipation von einem traditionellen Islam hin zu einem selbstbestimmten Islam berichtete. Dar war Philip Gondeki der das Buch „Aktiv für Vielfalt“ des Houses of Resources vorstellte. Da war Mario Anastasiadis, der uns einen Faktencheck über die Berichterstattung der Medien über das Flüchtlingsthema 2015/16 gab. Da war Mohamed Magani, der sicher auch was Interessantes sagte, aber mein Französisch war zu schlecht, um ihn zu verstehen. Da war Christian van den Kerckhoff, der die Technik überlistete, um uns einen Film von Adela Peeva über die Suche nach der Herkunft eines in vielen Völkern Südosteuropas verbreiteten Liedes erzählte und von den einander anfeindenden Besitzansprüchen auf eben dieses Lied. Da waren Aladin El Mafaalani und Andreas Zick, die uns erklärten, dass gelungene Integration neue Probleme hervorbringe und dass gerade die Offenheit der Mitte unserer Gesellschaft den politisch rechten Rand zum Widerstand provoziere. Da war das IFN-Podium über Religion und Demokratie, an dem Marianne Horling, Ruth Kühn, Ayfer Dagdemir, Aziz Fooladvand, Helia Daubach, Francesco Conidi und auch ich teilnahmen, welches deutlich machte, das Religionen keine statischen Gebilde sind und Demokratieunvermögen und Demokratieförderung gleichermaßen anzutreffen sind.

Da waren noch viele andere interessante Erlebnisse, und nicht alle waren erbaulich, sondern einige schwierig. Da war der Alevit der Muslime generell für nicht nachdenkend, sondern immer nur loyal zu allem Ja sagend, was der Koran vermeintlich befehle, hinstellte. Und Emel Zeynelabidin sagte es fast genauso, nur nicht auf alle Muslime, sondern nur auf die Traditionalisten bezog. Da waren die Vertreter des Instituts für Palästinakunde, die informieren oder werben wollten für einen Boykott israelischer Kultur als Protest gegen die Besetzung palästinensischer Gebiete durch Israel, und die deswegen aufgefordert wurden, das Haus der Geschichte zu verlassen. Da war die, wie sie sich vorstellte, „bibeltreue Christin und bekennende AfD-Wählerin“, die unser Podium „enterte“ und Statements von sich gab, auf die wir eingingen, auch wenn wir ihnen nicht zustimmten. So wurden Probleme offensichtlich, die nicht einfach zu lösen sind. Wie kommt man zu dem notwendigen Wissen, um zu sehen, was richtig und was falsch ist? Genügen da Faktenchecks auf Grundlage empirischer Forschung? Was ist, wenn den Fakten nicht geglaubt wird, weil man ihnen nicht glauben will? Wie überzeugt man Menschen, die einem nicht glauben? Die einem misstrauen? Oder wie kann man Vertrauen fassen, wenn man selber nicht glaubt, was einem da gesagt wird? Oder wie kann man zwei Positionen, von denen man meint, beide hätten ein wenig Recht und ein wenig Unrecht, dazu bringen, das auch so zu sehen?

Wie schaffen wir es, einander richtig zu verstehen? Ich bekam auch mal eine Antwort auf eine Frage, die ich nicht gestellt hatte und fühlte mich missverstanden. Karsten Schmidt, von dem das Zitat oben stammt, schrieb eine ganze Doktorarbeit über die Problematik, von einen europäisch-religiösen und -philosophischen Vorverständnis her, den Buddhismus verstehen zu wollen. Das Zitat ist so was wie die Quintessenz seiner Erkenntnis. Sie lässt sich auch auf andere interkulturelle Verstehensversuche übertragen. Doch setzt sie eines voraus: Das echte eigene Interesse, wirklich zu versehen und das Vertrauen darein, dass der Andere auch verstanden werden will. 

Die Bonner Buchmesse Migration zeigte mir jedenfalls, dass es notwendig ist, zuzuhören und verständlich zu reden, auf dass Kommunikation auch gelingt. Chancen dafür gibt es immer wieder, aber schnell sind sie oft auch schon wieder vorbei. So sollte man sie nützen, wenn sie sich einem bieten.
Angesichts der immer tiefer gezogenen ideologischen Gräben in unserer globalen Gesellschaft 30 Jahre nach dem Ende des kalten Krieges zwischen West- und Ostblock und angesichts des darüber hängenden Damoklesschwertes des Klimawandels ist es dringend geboten, aufeinander zu zugehen. Sonst tritt noch tatsächlich ein, was Helmut Bleifeld oben prophezeit hat: „Der Mensch, als nicht vorhersehbare Fehlentwicklung in der Evolution, wird sich selbst aussterben lassen.“


Zum Abschluss noch ein Zitat:

„Im reflexiven Selbstbewusstsein gestaltet der geistige Prozess den geistigen Prozess. Der Geist führt gleichsam eine Operation an sich selbst aus. Geistige Handlungen bewirken geistige Handlungen. Wenn der Geist erkennt, wie er sich im Erkennen formt und selbst gestaltet, beginnt der Weg der Befreiung.“
                                                                                                                  Werner Vogd[2]


Herzliche Grüße im Advent 2019
und allen die es feiern einen Advent, eine Wintersonnenwende und eine Weihnacht oder auch ein Chanukka-Fest voller Freude!
Ihr/Euer Michael A. Schmiedel
http://interreligioeser-rundbrief.blogspot.com/ 
https://ifn-bonnregion.jimdo.com/
https://ekvv.uni-bielefeld.de/pers_publ/publ/PersonDetail.jsp?personId=38488082

Und nun ein paar weiterführende Links:
Lahnstein:
https://de.wikipedia.org/wiki/Lahnstein
Bonner Buchmesse Migration 2019:
https://www.bonnerbuchmessemigration.de/?page_id=2287 (dort kann man sich durch das Programm klicken und über die von mir erwähnten und alle anderen Programmpunkte mehr erfahren)
Karsten Schmidt:
https://www.uni-frankfurt.de/54857770/Schmidt
Werner Vogd:
http://www.werner-vogd.de/Werner_Vogd.html

(Diesen Rundbrief schrieb ich am 4.12.2019 im IC von Bielefeld nach Köln und am 5.12.2019 zu Hause in Siegburg.)



  






[1] Karsten Schmidt. Buddhismus als Religion und Philosophie. Probleme und Perspektiven interkulturellen Verstehens. Stuttgart 2011 (Kohlhammer), S. 288.
[2] Werner Vogd. Welten ohne Grund. Buddhismus, Sinn und Konstruktion. Heidelberg 2014 (Carl Auer), S. 158.