Mit der Erlaubnis des Autors gebe ich hier seine Rückmeldung zum Interreligiösen Rundbrief Nr. 2015-04 wieder:
Lieber Michael,
Du schreibst mir aus der Seele.
Du weiß, dass ich weit vom linken Ideenspektrum entfernt
bin, aber ein zentraler Begriff meines christlich-liberalen Weltbildes ist
(neben dem der Freiheit) der der Verantwortung. Hier in Accra (Ghana), wo
Nicole und ich derzeit unter sicherlich sehr privilegierten Bedingungen leben,
können wir hautnah erleben, welche Mitverantwortung die wirtschaftlich
entwickelten Länder an der wirtschaftlichen Lage vieler Menschen haben.
Nur drei spontane Beispiele mit Deutschlandbezug, die wir
hier tagtäglich sehen:
- 6 km von unserem Haus entfernt ist die große Elektromüllhalde von Agbogbloshie, wo auch deutscher Elektroschrott von Kindern und Jugendlichen auf kleinen und großen Feuern verbrannt wird, um an die verbauten Metalle zu gelangen. Die Halde gehört darum zu den 10 giftigsten Orten der Welt. Die Gifte gehen direkt in die Luft (und die Lungen) und in den angrenzenden Fluss, der sofort ins Meer fließt, aus dem die Fischer versuchen, kleine Fische zu fangen, die wiederum umgehend lokal konsumiert werden. Der Müll dürfte eigentlich nicht die EU verlassen, aber er tut es eben doch und in Deutschland haben wir eine schöne, saubere Umwelt...
- Überall in der Stadt und auf dem Land gibt es kleine Nähstuben, in denen Männer und Frauen als selbständige Schneider arbeiten. Früher gab es viel mehr davon und die Schneider konnten brauchbar von ihrer Arbeit leben, denn fast alle Kleidung wurde lokal auf diese Weise hergestellt.
(Ghana produziert übrigens auch herrlich bedruckte
Stoffe.) Das Schneiderhandwerk leidet aber sehr stark, denn ebenfalls überall
kann man sehr billige gerauchte Kleidung und Schuhe kaufen. Diese stammen aus
unseren westlichen Altkleidersammlungen, die wir bereitwillig befüllen.
Die Sammler (bestenfalls das Rote Kreuz) verdienen an dem
Verkauf der gespendeten Sachen und machen hier einen funktionierenden Markt
kaputt.
Und die Kleiderspender haben dabei ein gutes Gewissen.
- Ghanas Fischer haben die großen Fische immer mit Netz und Leine weit draußen auf dem Meer gefangen, wohin sie teilweise tagelang mit offenen Einbäumen fahren. Dummerweise haben die Nordamerikaner, Russen, Chinesen und Europäer mit ihren Fabrikschiffen längst alles abgefischt. Uns hat das gesunden Fisch billig auf den Tisch und die hiesigen Fischer um ihre Existenzgrundlage gebracht.
Die Liste ließe sich weiterführen. Im Durchschnitt geht
es Ghana nicht mal schlecht, aber die persönlichen Perspektiven sind nicht
wirklich toll. Kein Wunder, dass auch Ghanaer das Gold am Ende des Regenbogens
suchen und sich in den Strom der Wirtschaftsflüchtlinge einreihen. Wie
verständlicher ist eine wirtschaftliche Fluchtmotivation bei Menschen aus viel
ärmeren Staaten?
Natürlich sind die entwickelten Länder nicht an allem
Elend schuld und nicht einmal die Kolonialzeit ist es. Nachteile bei Bildung, Gesundheit,
Infrastruktur und Marktzugängen tun ihr übriges. Und Korruption und der
Unwille, Hergebrachtes in Frage zu stellen und zu verändern, sind hier in Ghana
wesentliche hausgemachte (Mit)ursachen. Aber man muss doch feststellen, dass
wir eine strukturelle und - oh Schreck - oft eine persönliche Mitverantwortung
nicht negieren können.
Folglich sind wir moralisch verpflichtet, uns mit der
Flüchtlichproblematik auseinander zu setzen, und zwar auch, soweit es sich
"nur" um Wirtschaftsflüchtlinge handelt.
Leider befreit das Benennen der strukturellen
Fluchtursachen (und ich habe jetzt nur über den Anblick "vor meiner
Haustüre" in Accra berichtet) nicht davon, konkrete Lösungen im Umgang mit
den flüchtenden Menschen in Deutschland zu finden. Da tue ich mich auch schwer.
Ich habe das Gefühl, dass die Kanzlerin mit ihrem "Wir schaffen das"
Fakten schaffen und damit einen so großen Handlungsdruck aufbauen will, dass
die deutschen Parteien (vor allem ihre eigene) und die EU sich nicht mehr
wegducken können, sondern das Problem gemeinsam angehen müssen. Das wird
unbequem. Aber dieses ewige Fernhalten des Problems und das Negieren der
Mitverantwortung ist wirklich peinlich und beschämend. Der Kanzlerin Strategie
ist gewagt, aber ich bin davon überzeugt, dass gemeinsam tatsächlich Lösungen
möglich sind.
Wobei bei aller Romantik die Wahrheit dazu gehört, dass
wir leider nicht alle Ungerechtigkeiten auf der Welt abschaffen können und dass
Deutschland oder die EU nicht alle Flüchtlinge aufnehmen kann und viele wieder
zurückschicken muss. Hier sind gute Konzepte möglich, aber leider noch nicht
auf dem Meinungsmarkt. Zentrales Regelungsinstrument wäre unter anderem ein
Zuwanderungsgesetz. Doch solange es Parteien gibt, die dieses Wort nicht einmal
aussprechen können, muss die Kanzlerin wohl so weiter machen. Immerhin machen
die vielen freiwilligen Helfer Mut, auch wenn das für sich genommen noch kein
tragfähiges Konzept ist.
Neben Unterbringung und Finanzierung werden diejenigen
Flüchtlinge eine zentrale Herausforderung sein, die sich während ihrer Zeit in
Deutschland gut integriert haben. Soll man die behalten oder zurückschicken?
Wenn wir uns darüber klar werden, was Integration für uns bedeutet, wie wir sie
definieren wollen (z.B. über erworbene Sprachkenntnis, feste Arbeitsstelle,
gesellschaftliches Engagement etc.), dann sollen wir doch über die Integrierten
froh sein und sie behalten.
Ich habe dazu noch gar keine abgeschlossene Meinung, denn
es gibt so viele große und kleine Stellschrauben und all die
Gestaltungsmöglichkeiten müssen in Deutschland und Europa erst einmal in die
Diskussion gelangen und von allen Seiten ernsthaft und unaufgeregt beleuchtet
werden. Hoffentlich kommt es irgendwann dazu.
Dir jedenfalls Danke für deinen Debattenbeitrag und Dir
und Petra alles Gute!
Herzlich aus Accra,
Näx