Donnerstag, Mai 02, 2019

Interreligiöser Rundbrief für ... Nr. 2019-2 (02.05.2019)

Interreligiöser Rundbrief für Bonn und Umgebung 2019-2
(02.05.2019)



„Die soziale Forderung ist im Judentum ein Wesentliches und Notwendiges der Religion … Wer allein stehen will, zwar für sich nichts verlangend, aber auch keinem etwas leistend, der versündigt sich gegen Menschenrecht und Menschenwürde. Ein alter talmudischer Satz urteilt über ihn: >Zu sagen: Das Meinige ist mein und das Deinige ist dein – das ist Sodoms Denkungsart< …“[1]
Leo Baeck

Liebe Leser*innen,
der zweite interreligiöse Rundbrief innerhalb eines Monats? Und dazu noch ohne die Leser*innenbriefe zwischendurch? Ja, es treibt mich was dazu und hoffe, damit nicht zu nerven, aber vielleicht einen Nerv zu treffen.
 
Leserbrief
Trotz der Bitte um Ideen zu den Punkten der RfP-Weltversammlung 2019 am Ende des letzten Rundbriefes, kam nur ein einziger Leserbrief, und zwar von meinem BIM-Vorstandskollegen Uli Gilles, der nach zwei IFN-internen Themen ein ganz zentrales anspricht:
Ich habe eins der beigefügten Dokumente gelesen, kann aber nicht nachvollziehen, was gern gehörte Kapitalismuskritik mit interreligiösem Dialog zu tun hat.“
Und eben las ich das oben wiedergegebene Zitat von Leo Baeck.

Leo Baeck
Leo Baeck, einer der wichtigsten Denker des progressiven Judentums, geboren am 23.5.1873 in Lissa/Posen, schrieb sein Buch „Das Wesen des Judentums“ 1905. Von 1943 bis 1945 überlebte er das KZ Theresienstadt, wonach der in London lebte und wirkte. Bis zu seinem Tode am 2.11.1956 war er Präsident der World Union for Progressive Judaism.
Ich beginne gerade erst, mich mit ihm zu beschäftigen und merke: der Mann fordert mich heraus. Ich lese Passagen seines Werkes in dem Buch über Selbstzeugnisse des deutschen Judentum 1870-1945 und finde da so manche Aussage, die ich eher einem radikalen als einem liberalen Gläubigen zugetraut hätte. So distanziert er sein Judentum immer wieder von Polytheismus, von griechischem Denken, von der Antike und der Moderne zugleich und bringt Sätze wie: „Der gebietende Gott spricht unbedingt >du sollst< und >du sollst nicht<; er gibt Gebote, aber keine Ratschläge.“[2] Wenn man also jemandem beweisen will, dass liberale Religiosität keine Beliebigkeitsreligiosität ist oder zumindest keine sein muss, sondern auch radikal sein kann, dann empfehle man ihm die Lektüre Leo Baecks.

Herausforderung
Vor allem fordert er mich heraus, weil ich ein Gespür dafür habe, dass seine Texte wahrhaftig sind. Zwar spreche ihm ab, die Religionen und Philosophien, von denen er sich distanziert, richtig verstanden zu haben, denn seine Meinungen dazu sind mir zu einseitig apologetisch, aber das, was er über seinen eigenen Glauben schreibt, das Judentum oder zumindest sein Judentum, erscheint mir sehr authentisch.
Wenn er so betont, dass Gott Gebote und keine Ratschläge erteile, fordert mich das deswegen so heraus, weil ich von (modernen, westlichen) Buddhist*innen meistens höre, der Buddha habe eben keine Gebote, sondern Übungsanweisungen gegeben. Da vernehme ich also eine Ablehnung eines Denkens in Geboten und Verboten und stattdessen die Annahme von Ratschlägen und Übungsanweisungen. Und dabei heben beide Seiten die Verantwortung des Menschen hervor.

Vergleiche
Solche Vergleiche sind schwierig. Wahrscheinlich ist es falsch, hier einfach Aussagen gegenüberzustellen. Man muss nach dem Sitz dieser Aussagen im Leben fragen, nach der kontextuellen Bedeutung der so geäußerten Überzeugungen und Wertsetzungen. Was bedeutet „Gebot“ für die einen und „Übungsanweisung“ für die anderen? Ist ein Gebot verpflichtend und eine Übungsanweisung fakultativ? Ist ein gebietender Gott tyrannisch und ein ratender Buddha laissez faire? Kann man sich bei Geboten vor der Eigenverantwortung drücken oder bei Ratschlägen vor der Konsequenz der Nichtbefolgung?
Als Religionswissenschaftler wird mir geboten oder geraten, mich mit Bewertungen zurückzuhalten. Aber als gläubiger, spiritueller, philosophischer Mensch will ich wissen, was richtig oder wirklich ist. Mit Gustav Mensching sehe ich, dass es hier eher um Wirklichkeit als um Richtigkeit geht. Wie wirkt sich eine religiöse Überzeugung aus?

Pluralistische und komparative Religionstheologie
Theologi*innen und Philosoph*innen müssen sich diese Zurückhaltung nicht auferlegen. Sie brauchen sich nicht auf das Beschreiben und Analysieren zu beschränken, sondern dürften fragen: Was mache ich als Mensch jetzt damit? Pluralistische Religionstheolog*innen versuchen, interreligiöse Antworten zu finden und bemühen sich um eine Perspektive, die zugleich in und über den Religionen ist, also nicht um eine reine Außenperspektive wie Religionswissenschaftler*innen, sondern um eine Synthese von Innen- und Metaperspektive. Komparative Religionstheolog*innen bemühen sich, andere Religionen aus der Mitte ihrer eigenreligiösen Theologie heraus zu verstehen.

100%
Ich weiß nicht wer, aber jemand sagte mal: „Ich bin 100% Christin und 100% Buddhistin“. Ich dagegen empfinde mich eher als teils dies und teils jenes, aber nichts zu 100%. Sollte ich Religionstheologie betreiben, läge mit anscheinend die pluralistische näher als die komparative, denn es gibt keine zu einer verfassten Religion gehörende Theologie, die ich die meine nenne, und aus deren Mitte heraus ich versuchen könnte, andere Religionen zu verstehen.

Kontexte
Meine religionswissenschaftliche Bildung sagt mir, dass Religionen immer in gesamtgesellschaftlichen Kontexten existieren, also auch in wirtschaftlichen und politischen. IFN-Gründungsmitglied David Y. Clemen schrieb kürzlich an einem Buch namens „Das Religiöse ist politisch“ mit, das ich mir bestellt habe. Bin gespannt! Auch Leo Baeck sieht diese Kontexte, wie das obige Zitat zeigt. Religion, Politik, Wirtschaft und andere Bereiche menschlicher Kultur und Gesellschaft beeinflussen sich gegenseitig. Und so kann auch alles, was mit Religion in einem wechselseitigen Beeinflussungsverhältnis steht, Thema des interreligiösen Dialogs sein.

Keine Eindeutigkeit
Welche politischen oder wirtschaftlichen Meinungen ein religiöser Mensch vertritt, kann man nicht vorhersagen. Weder jüdische, noch christliche oder islamische oder buddhistische, noch sonst eine Religiosität ist zwangsläufig mit einer bestimmten politischen oder wirtschaftlichen Richtung verbunden. Überall gibt es Konservative, Liberale, Sozialisten, Nationalisten, Kommunisten und so weiter. Aber darüber zu reden, welche Meinung jemand hat, und wie er*sie diese Meinung mit seiner*ihrer Religion in Verbindung bringt, ist spannend. Und wenn eine interreligiöse Gesprächsgruppe über die Religionsgrenzen hinweg zu einer Kritik an bestehenden kapitalistischen Zuständen gelangt, aus der Erkenntnis heraus, dass Ungerechtigkeit und unverschuldete Armut zum Unfrieden beiträgt und Friedensarbeit dort ansetzen muss und sich nicht auf Gespräche über die „reine“ Religion, also Glaubensinhalte, Riten und so weiter  beschränken darf, dann ist das einem interreligiösen Dialog überhaupt nicht fremd. Und Leo Baeck zeigt ja, dass man auch aus der Mitte der eigenen Theologie heraus zu einer solchen Kapitalismuskritik kommen kann – wenn auch nicht muss.

Radikalität
Das Spannungsverhältnis zwischen Radikalität und Liberalität wird mich noch weiter beschäftigen. Sind Terroristen, wie die, die in Neuseeland, Sri Lanka und den USA in den letzten Wochen Andersgläubige ermordeten, radikal im Sinne der Radikalität Leo Baecks? Oder mangelt es ihnen nicht vielmehr an einer echten Radikalität des Glaubens? Denn hätten sie diese, bräuchten sie ihrer Religiosität oder Weltanschauung nicht im Hass auf Andersgläubige Ausdruck zu verleihen, denn sie würden keinen Hass empfinden. Oder ist der einzige Weg zum Frieden die Überwindung jeder Form von Radikalität? Ich gelange jedenfalls zu einer neuen Bewertung dieses Begriffs und trenne ihn nicht mehr so eindeutig von dem der Liberalität. Überhaupt meine ich, dass eindeutige Begriffsbewertungen zur Einseitigkeit neigen, ohne dass ich deshalb einer Beliebigkeit der Begriffsverwendung das Wort reden möchte.


Oder wie denken Sie/denkt Ihr darüber? Leser*innenbriefe sind wieder willkommen, auch gerne noch zu den Punkten der RfP-Weltversammlung.

Ich ende mit noch einem Zitat von Leo Baeck;
„Auch im Sozialen wendet sich das Judentum gegen die Vorstellung von einem Fatum. Und gegenüber dem Elend vor allem gilt es, das wir in der Armut vor uns sehen. Nicht ein Schicksal spricht in ihr zu uns, sondern das Wort zu einer bestimmten Pflicht. Der Arme ist der Mitmensch im besonderen Sinn des Gebotes…
Das Wort >Armer< ist ein Wort, das die Bibel mit Andacht, mit Ehrfurcht ausspricht, wie in heiliger Scheu. Und auch am Armen ganz wie am Knechte und am Fremdling, wird Israel an sein eigenes Los gemahnt, an seine Gedrücktheit auf Erden.“[3]        



Hier noch ein paar Links für die, die das eine oder andere vertiefen möchten:

Leo Baeck:
https://de.wikipedia.org/wiki/Leo_Baeck
https://www.lbi.org/

(geschrieben am Dienstag, dem 30.4.2019 im Zug von Köln nach Bielefeld; Links gesetzt am 2.5.2019 zu Hause in Siegburg)



[1] Leo Baeck. Aus: Das Wesen des Judentums, 6. Aufl., Köln 1958, S. 227ff., hier zitiert nach: Achim von Borries (Hrsg.). Selbstzeugnisse des deutschen Judentums 1870-1945, Frankfurt a.M. 1962 (Fischer), S. 112.
[2] Ebd. S. 142 (Wesen) bzw. S. 109 (Selbstzeugnisse).
[3] Ebd. S. 227ff. (Wesen) bzw. S. 113 (Selbstzeugnisse).