Samstag, Dezember 30, 2023

Interreligiöser Rundbrief ... Nr. 2023-3 (30.12.2023)

 

Interreligiöser Rundbrief für Bonn und Umgebung Nr. 2023-3
(30.12.2023)

Die heutige Zeit
hängt wie eine
zerbrechliche Kugel
am Baum der Ewigkeit!
                        Christine Reidl[1]

Liebe Leser:innen,

das kleine Gedicht oben stammt aus dem Straubinger Kalender, den ich mir, seitdem ich 2014 erstmals ein Exemplar in der Bahnhofsbuchhandlung von Zwiesel im Bayerischen Wald gekauft habe, jedes Jahr bestelle. Es ist immer ein richtiges Taschenbuch, in welchem nach den vier Jahreszeiten geordnet Gedichte, Prosa und Sachtexte, teilweise von Leser:innen, abgedruckt sind, teils in Mundart, teils standarddeutsch. Ein Kalendarium gibt es natürlich auch. Ich lese die Texte dann immer passend zur Jahreszeit. Und ich wünschte mir, es würde so bleiben, dass Frühling, Sommer, Herbst und Winter schön ordentlich aufeinander folgen und jede Jahreszeit so sei, wie sie sein soll. Aber inzwischen dürften es auch die Letzten gemerkt haben, dass unser Weltklima sich verändert. Naturkatastrophen häufen sich und machen weder vor Altbaiern, noch vor dem Rheinland halt. Und auch die Kriege kommen näher, nicht nur über die Nachrichten, sondern über Flüchtlinge und über den Wahnsinn, der immer mehr Gemüter erfasst. Der Wahnsinn, den ich meine, ist der, dass man Hass aufkommen lässt gegen Menschen, nur weil sie einem bestimmten Volk oder einer bestimmten Religion angehören.

Ich habe schon zwischendurch darüber berichtet, dass wir in Bonn eine Initiative gegründet haben, die Bonner Initiative für Respekt und Zusammenhalt (BIRZ). Wir, das sind Menschen jüdischer, christlicher, muslimischer, buddhistischer und anderer Identitäten und Überzeugungen. Wir wollen gemeinsam ein Zeichen für Respekt und Zusammenhalt und gegen Antisemitismus und Muslimfeindlichkeit setzen. Und dafür suchen wir Menschen, die mit ihrem Namen ebenso dafür einstehen. Unsere Erklärung habe ich schon rundgeschickt (und nun auch hier am 6.1.2024 veröffentlicht) und werbe dafür, dass Sie/Ihr alle, sofern Ihr/Euer Wohnort in Bonn oder Umgebung liegt oder ein persönlicher Bezug zu Bonn und Umgebung vorhanden ist, mit Ihre/Eure Namen schickt, damit ich sie in die Liste eintragen kann und/oder (wahrscheinlich) am 4. Februar 2024 zur Kundgebung und  Demonstration dazu kommt. Mehr Infos dazu kommen noch extra, aber Eure/Ihre Namen nehme ich schon mal entgegen, einfach per E-Mail an michael.a.schmiedel [at] gmx.de

Am Morgen des Heiligen Abend kam im Deutschlandfunk ein kleines (10:44), am Vorabend aufgezeichnetes Interview mit mir über die Frage, ob Religionen Frieden stiften können. Wer mag, höre es sich an: https://www.deutschlandfunk.de/stiften-religionen-frieden-michael-a-schmiedel-religionswissenschaftler-dlf-82cab90b-100.html. Die Sendung heißt „Information und Musik“ und kommt immer sonntags um 7 Uhr, kann aber auch hinterher als Podcast gehört werden (https://www.deutschlandfunk.de/information-und-musik-100.html; beide Seiten aufgerufen am 30.12.2023).

Angeregt durch die Treffen der BIRZ habe ich am 5.12. einen Text verfasst, den ich hier wiedergebe:

„1
Den Dingen geht der Geist voran; der Geist entscheidet:
Kommt aus getrübtem Geist dein Wort und dein Betragen.
So folgt dir Unheil, wie dem Zugtier folgt der Wagen.
 
2
Den Dingen geht der Geist voran; der Geist entscheidet:
Entspringen reinem Geist dein Wort und deine Taten,
folgt das Glück dir nach, unfehlbar wie dein Schatten.
 
3
‚Beraubt bin ich, besiegt, geschlagen und geschändet‘,
Solange man so denkt, wird Feindschaft nicht beendet.
 
4
‚Beraubt bin ich, besiegt, geschlagen und geschändet‘',
Wenn man so nicht mehr denkt, wird Feindschaft bald beendet.
 
5
Denn Feindschaft wird durch Feindschaft nimmermehr gestillt;
Versöhnlichkeit schafft Ruh' - ein Satz, der immer gilt.
 
6
Man denkt oft nicht daran, sich selbst zurückzuhalten;
Wer aber daran denkt, der läßt den Zorn erkalten.“

(Dhammapadam. Yamaka – Spruch-Paare, 1-6, Quelle:
https://palikanon.com/khuddaka/dhp/dhp.html#Yamaka (aufgerufen am 05.12.2023)

Hin- und hergerissen zwischen dieser zeitlosen Wahrheit und der Überzeugung, dass jeder ein Recht auf Selbstverteidigung hat, jeder Mensch, jede Gruppe, jeder Staat, komme ich zu der Vorstellung einer angemessenen Verteidigung. Was aber angemessen ist, ist schwierig zu finden. Wer kämpft, behauptet oft, sich nur zu verteidigen, auch wenn es eine so genannte Vorneverteidigung ist, also ein Angriff, den man zur Prävention des Angegriffenwerdens durchführt. Und wer sich verteidigt, empfindet es meistens als angemessen. Wer aber angegriffen wird, empfindet es meistens als ungerechtfertigt, als brutal oder cäsarisch[2], als verbrecherisch.

Ob es nun um Russland und die Ukraine oder um Israel und Palästina geht, es finden sich weltweit viele Menschen, die einseitig Stellung beziehen und die je andere Seite des Verbrechens beschuldigen. Beweise für die Richtigkeit der eigenen Parteinahme finden sich immer.

Aus der Ablehnung einer der Kriegsparteien wird oft Hass, der nicht nur den Regierenden und den Kämpfenden gilt, sondern allen Menschen, die irgendwie zu denen gehören, sei es religiös, sei es ethnisch, sei es sonst wie. So wird Hass geschürt auf DIE Russen, DIE Ukrainer, DIE Israelis, DIE Palästinenser oder gar auf DIE Russisch-Orthodoxen, DIE Liberalen, DIE Juden, DIE Muslime. Und dieser Hass trifft Menschen überall auf der Welt, auch wenn sie mit dem jeweiligen Krieg gar nichts zu tun haben. So erwachen Russlandfeindlichkeit, Ukrainefeindlichkeit, Antisemitismus und Islamophobie.

Dazu sagen wir NEIN!

Wir Menschen, egal in welchem Land und welcher Religion wir verwurzelt sind, lassen uns nicht von Hasspredigern auseinanderdividieren! Wir halten zusammen, Jud:innen, Muslim:innen, Christ:innen, Buddhist:innen, Agnostiker:innen und alle anderen.

Auch konkret hier in Deutschland, im Rheinland, in Bonn und Umgebung sagen wir JA zum Zusammenhalt, zum Frieden, zur gemeinsamen Verantwortung für unsere Gesellschaft.

Wir sagen JA zum Mitgefühl mit den Opfern der Kriege, mit den Soldat:innen, die an der Front verheizt werden, mit den Zivilist:innen, die ihre Häuser, ihre Heimat, ihre Angehörigen, ihre Gesundheit, ihr Leben verlieren.

Wir sagen JA zur Weisheit, die wir brauchen, die richtigen Entscheidungen zu treffen, die richtige Angemessenheit zu erkennen.

„Waffen sind Geräte, die Unheil bringen.
Deshalb werden sie von den Wesen verabscheut.
Wer dem Tao folgt, der braucht keine Waffen.
Der Edle bevorzugt im Frieden die Linke als Ehrenplatz.
Im Krieg braucht er aber die Rechte als Ehrenplatz.
Waffen sind Geräte, die Unheil bringen.
Sie sind keine Geräte für den Edlen.
Nur wenn er gezwungen ist, gebraucht er sie.
Ruhe und Frieden schätzt er am meisten.
Siegt er, so hat er keine Freude.
Wer sich freut,
der freut sich über das Töten von Menschen
und kann sein Ziel in der Welt nicht erreichen.
Bei Glücksfällen ist die Linke der Ehrenplatz.
Bei Unglücksfällen ist die Rechte der Ehrenplatz.
Der Unterführer der Truppe steht links.
Der Oberführer der Truppe steht rechts.
Die Rangordnung ist also wie bei einer Trauerfeier.
Wenn viele Menschen getötet werden,
so Tränen der Trauer und des Mitleids weinen.
Darum gleicht der Sieg im Krieg einem Begräbnis.“

Tao Te King (Dao De Dsching), Kap. 31,
Quelle:
https://www.keybylion.com/deutsch/tao-te-king-von-laotse/ (aufgerufen am 5.12.2023)


Diesen Text überlasse ich ohne weitere Kommentierung Ihrer/Eurer Interpretation. Rückmeldungen sind natürlich willkommen.

Ich ende diesen Rundbrief mit dem Gedenken an zwei meiner Lehrer, die im vergangenen Jahr gestorben sind: Klaus Wansleben und Hans Waldenfels.

Über beide gibt es Wikipedia-Einträge[3], so dass ich es hier bei einigen persönlichen Worten belasse:

Klaus Wansleben war in den 1990er und 2000ern mein Zen-Lehrer. Von ihm lernte ich, 3 x 25 Minuten stillsitzend zu meditieren, zu beobachten, was dabei so in mir vor sich ging, ohne es zu bewerten und dadurch an nicht-rationaler Erkenntnis zuzunehmen. Und ja, ich hatte sehr wichtige Erkenntnisse durch diese Übung, die ich hier aber nicht ausbreiten will. Nur so viel: Ich bin im sehr dankbar für seine Anleitungen! Ich wäre nicht, wer ich bin, ohne ihn. Dass ich mich dann doch von ihm als Lehrer distanzierte? Weil wir bei der Frage, ob man sich mit der Verantwortung auch der Zen-Lehrer, die in „unserer“ Linie, der Sanbo-Kyodan, im II. Weltkrieg den japanischen Imperialismus unterstützt haben, auseinandersetzen sollte oder nicht, nicht auf einen Nenner kamen. Das ist aber eine längere Geschichte, von der ich vielleicht ein anderes Mal erzähle. Ich meditiere jedenfalls nach wie vor (wenn auch nur 1 x 20 Minuten am Abend), habe nur meinen Glauben an die Weitergabe von Herz zu Herz von einem Lehrer zu seinem Schüler, der dann auch Lehrer wird, verloren und bin seitdem sehr vorsichtig damit, mich mit einer Tradition zu identifizieren.  

Hans Waldenfels war mein Professor für römisch-katholische Fundamentaltheologie an der Uni Bonn von 1993 bis 2000. Das war eines meiner beiden Nebenfächer. Ich lernte von ihm, dass Religion und Theologie sich immer in Kontexten bewegt, also keine starren Gebilde sind, sondern immer im Austausch mit anderen Religionen, Theologien, Weltanschauungen und so weiter und sich so auch immer verändert. Ich lernte in meinem Wechsel religionswissenschaftlicher und theologischer Lehrveranstaltungen die Perspektiven auseinanderzuhalten und zu berücksichtigen. „Perspektivebewusstsein“ ist in meinen eigenen Lehrveranstaltungen an der Uni Bielefeld ein nicht selten zu hörendes Wort. Nur sein Postulat, im interreligiösen Dialog gehe es hauptsächlich um Identitäten und Standpunkte, die man beide haben müsse, um einen Dialog führen zu können, habe ich für mich modifiziert, indem ich lieber von Weg und Methode rede: Ich befinde mich auf einem Weg, dessen Ende ich nicht kenne, lerne Methoden, religiös und wissenschaftlich zu denken, zu meditieren, zu leben und verändere mich dabei, so dass jeder Standpunkt nur vorrübergehend ist. Und ich wünsche mir, dass diese Veränderungen eine Weiterentwicklung bedeuten.

Man sieht, Lehrer wirken nach. So soll es sein! Ich kann mir nur wünschen, auch nachzuwirken auf meine Studierenden und Dialogpartner:innen, nicht so, dass sie zu allem Ja und Amen sagen, was ich von mir gebe, sondern so, dass sie sich kritisch damit auseinandersetzen, so wie ich es mit den Lehren meiner Lehrer:innen mache.

Noch ein Zitat am Schluss, auch aus einem Nachruf auf einen 2023 verstorbenen wichtigen Menschen:

„Als Liedermacher war MacGowan ein Dichter, der Sozialkritik mit irischem Nationalismus verband und so zur Stimme vieler Menschen wurde, die entwurzelt in der Megastadt und anderswo in England lebten, aber auch der Iren in Irland selbst und in den USA. Das zum alljährlich wiederholten Klassiker gewordene „Fairytale Of New York“ gilt vielen als ihr Lieblingsweihnachtslied, […]“

                                                                       Stefan Backes und Michael A. Schmiedel[4]

Herzliche Grüße und alles gute für das neue Jahr!
Ihr/Euer Michael A. Schmiedel
http://interreligioeser-rundbrief.blogspot.com/

 

(Geschrieben zu Hause in Siegburg am 29.+30.12.2023 bzw. z.T. am 5.12.2023, zu Hause oder im Zug. Am 6.1. einen Tipp- und einen Satzstellungsfehler korrigiert und auf den BIRZ-Basistext hier auf der Website hingewiesen.)



[1] Straubinger Kalender 2023. Heimatkalender für Niederbayern und Oberpfalz im 427. Jahrgang. Der älteste Heimatkalender Deutschlands. Straubing 2022 (Cl. Attenkofer’sche Buch- und Kunstdruckerei, Verlagsbuchhandlung). Vgl. https://verlag-attenkofer.de/straubinger-kalender-20232.html (aufgerufen am 30.12.2023).

[2] Begriff von meinem Religions-for-Peace-Kollegen Harald Bergmann, der sagt, dass „brutal“ von „Brutus“ komme, Brutus aber nur einen rücksichtslosen Tyrannen ermordet habe, dessen Taten weitaus schlimmer gewesen seien, so dass er sie als „cäsarisch“ bezeichnet. Er meint, wer das Wort „brutal“ im negativen Sinn verwendet, trage nur die cäsarische Propaganda weiter.

[3] Zu Klaus Wansleben vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Klaus_Wansleben und zu Hans Waldenfels https://de.wikipedia.org/wiki/Hans_Waldenfels (beide aufgerufen am 30.12.2023).

[4] Stefan Backes und Michael A. Schmiedel. Shane MacGowan. Ausklang. In: folker.world, 6. Dezember 2023, https://folker.world/ausklang/shane-macgowan/ (aufgerufen am 30.12.2023).