Freitag, April 12, 2019

Interreligiöser Rundbrief ... Nr. 2019-1 (12.04.2019)


Interreligiöser Rundbrief für Bonn und Umgebung 2019-1
(12.4.2019)


„Bozhana bringt mich zu Prof. Kostadin Nushev von der bulgarisch-griechisch orthodoxen Kirche, und ich erkundige mich, wie er das Zusammenleben der verschiedenen Religionen von Seiten der bulgarischen Orthodoxie einschätzt. Auch Kostandin Nurshev wird an der Konferenz der sechs größten Glaubensgemeinschaften in Bulgarien teilnehmen, die Petko Vulov bereits erwähnt hat. […] ‚Ich bin seit fünf Jahren regelmäßig dabei. Im Mittelpunkt unseres Dialogs stehen Kultur, Menschenrechte, Freiheiten Toleranz – Themen, die uns als Religionsgemeinschaften interessieren und uns mit den Bürgern verbinden. Wir treffen uns, um Gemeinsamkeiten zu betonen und Unterschiede zu schlichten. Genau das war unser Thema voriges Jahr:  der Dialog zwischen Religionen.‘“ [1]
Harald Grill

Liebe Leser*innen,
ich bin ein langsamer Leser, und doch ist der letzte interreligiöse Rundbrief, den ich mit einem Zitat aus Ernst Wiecherts „Die Jeromin-Kinder“ begann, schon einige Bücher her. So las, ich seitdem „Missa sine nomine“ von Ernst Wiechert, welches zeitlich nach „Die Jeromin-Kinder“ spielt und von Flüchtlingen aus Ostpreußen in Hessen erzählt, dann „Da kräht kein Hahn nach Dir“ von Harald Grill, worin es um einen Jungen geht, der vom Dorf in die Stadt zieht und sich dort in neuer Umgebung zurechtfinden muss, anschließend „Wir Kassettenkinder“ von Anne Weiß und Stefan Bonner, ein Rückblick auf die 1980er, geschrieben in erster Linie für Leser*innen, deren Kindheit und Jugend in diesem Jahrzehnt lag, „Der Buddha“ von Hans-Joachim Klimkeit, worin dieser ein Bild des Buddha anhand der Texte des frühen Buddhismus entwirft oder vielmehr ein Bild davon, welches Bild sich die frühen Buddhist*innen machten, das sich von dem vieler moderner Buddhist*innen doch reichlich unterscheidet, einige Gaston-Hefte von André Franquin, also lustige Comicstreifen über den chaotischsten aller Büroboten und zuletzt „Hinter drei Sonnenaufgängen“, wieder von Harald Grill.

Hinter drei Sonnenaufgängen
Das Buch ist eine Reiserzählung. Harald Grill war 2016 drei Monate lang im Auto in Rumänien und Bulgarien unterwegs, nebst einem Abstecher nach Odessa in der Ukraine. Er traf sehr viele Leute, die er teils für den Bayerischen Rundfunk interviewte, wobei sein Hauptinteresse im Zusammenleben der vielen ethnischen und religiösen Gruppen miteinander und dem Verhältnis zwischen Mehrheitsgesellschaft und Minderheiten lag. Zugleich war diese Reise für ihn ein Abstandnehmen von den Jahren zuvor, in denen er seine alte Mutter pflegte. Er beschreibt auch Landschaften und das Reisen selbst. Immer wieder wichtig sind ihm Flüsse, an denen er sich orientierte. Selbst an der Donau bei Regensburg aufgewachsen, war ihm das Erleben dieses Stroms und seiner Nebenflüsse immer wieder wichtig, was ich als Rheinländer sehr gut verstehen kann. Selbstverständlich besuchte er auch das Mündungsdelta und die Schwarzmeerküste. Immer wieder beleuchtet er auch die Beziehungen zwischen Südosteuropa und Deutschland: So besuchte er deutschstämmige Rumänen, beleuchtet die Auswirkung der Arbeitsmigration von Rumänen und Bulgaren, die zum Beispiel in Deutschland arbeiten, während sie ihre Kinder zu Hause zurücklassen, und besuchte Nicopolis ad Istrum, wo im 5. Jahrhundert Bischof Wulfila die erste Bibelübersetzung in eine germanische Sprache, ins Ostgotische, vornahm.
Das Zitat oben stammt von seinem zweiten Besuch in Sofia, das unten am Ende des Rundbriefes von seiner Fahrt durch das bulgarische Rhodopengebirge.

Harald Grill
Was mich an Harald Grill besonders begeistert, ist seine zugleich offene, an allem interessierte und zugleich kritische Haltung. Er sucht Gespräche, sowohl mit Schriftsteller*innen, Politiker*innen, Vertreter*innen ethnischer Minderheiten, aber auch mit ganz normalen Leuten auf der Straße. Nicht immer gelingt sie, da Sprachbarrieren manches unmöglich machen, aber doch kommen immer wieder herzliche und informative Begegnungen zustande. Lustig finde ich, wenn er mit Bulgaren und Rumänen Bairisch redet, da er meint, wenn man keine gemeinsame Sprache habe, komme die Wärme der Mundart vielleicht doch durch.
Ich stieß auf ihn durch einen Beitrag im Straubinger Kalender 2015, den ich mir 2014 in der Bahnhofsbuchhandlung in Zwiesel im Bayerischen Wald kaufte. Sowohl lasse ich mir diesen Kalender mit allerlei Texten vor allem aus der Leser*innenschaft, seitdem jedes Jahr schicken, als auch las ich seit dem inzwischen vier Bücher von Harald Grill, nämlich „Gehen lernen“, „Bairische Gedichte“, „Da kräht kein Hahn nach dir“ und eben „Hinter drei Sonnenaufgängen“ und warte sehnsüchtig auf seine beiden Bücher über „Spaziergänge“ durch Europa, nämlich einmal von Palermo und einmal vom Nordkap heimwärts nach Regensburg. Man kann ihn auch in der Mediathek des Bayerischen Rundfunks finden.

End-of-Life (7): Jewish Perspectives (4)
Eine meiner kleinen Reisen seit dem letzten interreligiösen Rundbrief führte mich Ende März nach München zu der siebten Tagung der End-of-Life-Reihe, die der Bielefelder Onkologe und Palliativmediziner Dr. Stephan Probst organisiert. Sie war zugleich die vierte Tagung der Unterreihe „Jewish Perspectives“, und wie in den drei vorhergehenden, von denen ich zwei besuchte, war in die Tagung wieder das Feiern des Schabbats von Freitag- bis Samstagabend integriert. So gaben mir diese Tagungen Einblicke in jüdisches Gemeindeleben, die ich ohne sie nie gehabt hätte. Das Spezialthema dieser Tagung was „Alter und Älterwerden“. Es ging dabei vor allem darum, die Würde der alten Menschen zu respektieren, auch wenn sie pflegebedürftig sind. Unter den Referenten waren auch zwei schon betagte Männer, die ich schon von vorherigen Tagungen kannte, und die als Vorbilder dafür dienen können, wie ich mir mein Altsein am liebsten vorstelle, vor allem was die geistige Verfassung angeht. Der eine ist Rabbiner Tovia Ben Chorin, 83 Jahre alt, der zusammen mit seiner Frau da war. Zu ihr sagte ich mal, sie kämen mir vor, wie ein perfektes Paar, worauf sie meine: „Perfekt ist niemand. Wir arbeiten daran.“ Ben Chorin jedenfalls ist immer noch amtierender Rabbi einer Gemeinde in Sankt Gallen, diskutiert leidenschaftlich gerne und noch lieber singt er mit einer Inbrunst, Ausdauer und einem Elan, der ihn sogar wie ein Massai auf und ab hüpfen lässt. Prof. Dr. Gerhard Baader hat als Jugendlicher in einem Arbeitslager die Shoah überlebt, machte danach Abitur, studierte und wurde zu einem Fachmann für die Geschichte der nationalsozialistischen Medizin. An den Wochenenden übte er sich zusammen mit Freunden extremes Bergsteigen, was für ihn und seine Freunde ein Lebenselixier war. Heute mit 91 ist er schwer gehbehindert, so dass ein Rollstuhl auf der Tagung Abhilfe leisten musste. Aber er hat eine Geistesgegenwart, die ich mir für mich selber wünsche. Ein anderer Professor, der israelischer Staatsbürger ist, zeigte in einem Gespräch wenig Verständnis dafür, dass man als Jude „im Lande der Mörder“ lebe, statt nach Israel zu kommen. Ich meine und sagte es ihm auch: Als nicht jüdischer Deutscher bin ich froh um jeden Juden der noch oder wieder hier lebt, denn der hält die Flagge hoch und zeigt es den Nazis, dass sie nicht gesiegt haben.

Nochmal: Liberale und konservative Religiosität
Ich will nochmal auf liberale Religiosität zurückkommen, von der ich im letzten interreligiösen Rundbrief geschrieben habe. Die Beth Shalom-Gemeinde ist nämlich eine liberal-jüdische, und ich fühlte mich dort willkommen und gut aufgehoben. Ich schrieb im letzten Rundbrief von einer muslimischen Theologin, die meinte, einen Ersatz für ein Tieropfer beim Opferfest gebe es allenfalls bei liberalen Muslimen. Ich hatte die Gelegenheit, in einer anderen Bielefelder Moschee eine andere junge Muslimin, die uns dort führte und die Worte des Imams übersetzte, zu fragen, wie sie das sehe. Sie meinte, ja klar, man könne auch etwas anderes opfern, das müsse kein Tier sein, sondern man könne zum Beispiel auch Geld spenden oder Spielzeug für arme Kinder. Ob diese Gemeinde nun liberal war? Mein Kollege Sakin Özıšık, selbst ein islamischer Theologe, erklärte mir, die beiden Moscheen, die eine türkisch, die andere kurdisch, gehörten verschiedenen Rechtsschulen an, die eine der hanafitischen, die andere der schafiitischen. Man lernt nie aus! Wichtig ist auf jeden Fall wieder die Bestätigung der Erkenntnis: Religionen sind keine monolithischen Blöcke, sondern in sich vielfältig und unterliegen zudem immer wieder der Veränderung, auch wenn manche konservative Gläubige behaupten, das sei alles genau so und nicht anders, und schon immer so gewesen, und daran etwas zu ändern, sei schlecht. Aber vielleicht brauchen diese Menschen ja genau dieses feste, unerschütterliche Fundament, um leben zu können. Aber könnten sie mit der Selbsteinschätzung leben, dass sie sich aus ihrer Religion holen, was sie brauchen, und dass andere Menschen vielleicht anderes brauchen, was sie sich auch aus ihrer Religion holen?

10. Weltversammlung von Religions for Peace in Lindau, 19.-23.8.2019
Im August wird in Lindau die 10. Weltversammlug von Religions for Peace stattfinden. Ich hatte gehofft, dabei sein zu können, aber außer RfP sind auch noch die Bundesregierung und eine lokale Lindauer Friedensinitiative, und unter den 900 Delegierten aus vielen Ländern der ganze Welt sind nur fünf deutsche von RfP und vom Runden Tisch der Religionen eingeladen, womit Deutschland tatsächlich sogar eine der größten Gruppen stellt. Aber diese Versammlung soll mehr bewirken, als ihren Teilnehmer*innen eine interessante Unterhaltung zu bieten. Vielmehr sollen ihre Themen auch außerhalb der Tagung diskutiert und umgesetzt werden. Interreligiöse Gruppen, wie zum Beispiel die lokalen RfP-Gruppen sind somit aufgefordert, sich in dieser Weise zu beteiligen. Beim letzten interreligiösen Gesprächskreis haben wir schon damit angefangen, und mal sehen, was andere IFN-Mitglieder dazu sagen. Ich werde es dort mal einbringen, und dann hier gerne davon berichten. Oder vielleicht wollen Sie sich auch einbringen mit eigenen Ideen oder anderen Vorschlägen.
Das hier sind die Haupttagungsthemen auf Englisch, die ich gerne übersetze:
 
"Caring for Our Common Future" (Sich um unsere gemeinsame Zukunft kümmern.)

1. Caring for Our Common Future - through Preventing and Transforming Conflicts including War and Terrorism (… - durch Konfliktvermeidung und -transformierung, einschließlich Krieg und Terrorismus)
2. Caring for Our Common Future - througt Promoting Just and Harmonious Societies (… - durch Förderung von Recht und harmonischen Gesellschaften)
3. Caring for Our Common Furure - througt Working for Sustainable and Integral Human Development (… - durch Arbeit für eine nachhaltige und integrale menschliche Entwicklung)
4. Caring for Our Common Future - through Protecting the Earth (… - durch das Schützen der Erde)


Im interreligiösen Gesprächskreis kamen wir, ohne die einzelnen Punkte anzusprechen, zu folgenden allgemeinen Lösungen, die wir auf zwei Ebenen aufteilten:



1. Die Arbeit an sich selbst:
- die genannten Probleme als zur menschlichen Natur gehörend
- egal ob man die Mächtigen oder die Otto Normalverbraucher beobachtet: überall kurzsichtiges, egoistisches Verhalten (Bsp.: Online-Käufe: viele bestellen mehr, als sie brauchen und schicken vieles zurück, egal, wie sehr das die Mitwelt belastet, ja manche bestellen gar Kleidung, ziehen sie übers Wochenende an und schicken sie dann zurück)
- wichtig ist es, diese Tendenzen in sich selbst zu bekämpfen
- Gier, Hass, Verblendung, wie es buddhistisch heißt, als menschliche Grundübel
- Religionen bieten Methoden, damit umzugehen
2. Die gesellschaftliche Ebene:
- keine Möglichkeit, oben genanntes Arbeiten an sich selbst gesamtgesellschaftlich durchzusetzen
- Kapitalismus/Neoliberalismus, aber auch Nationalismus als kausale Folgen o.g. rücksichtlosen Egoismusses
- Kritik an Shareholder-Value-Wirtschaft, nach der die Gewinne der Aktionäre das ökonomische Hauptziel sind
- wobei Adam Smith von heutigen Kapitalisten einseitig und oft falsch gelesen wird
- Akkumulation des Kapitals, wie Marx es nannte, ist heute zu beobachten und führt zur Reich-Arm-Schere, die bei den Armen wiederum die Aggression und Gewaltbereitschaft schürt und das Suchen nach Schuldigen oft an der falschen Stelle (Ausländer, Juden, Andersgläubige statt eben die kapitalistisch-neoliberalen Ökonomen)
- eine internationale gesetzliche und exekutive Steuerung der Finanzflüsse wäre notwendig, würde zwar die menschliche Natur nicht ändern, könnte aber Kriege, Mitweltzerstörung usw. verhindern und Frieden und Nachhaltigkeit fördern   


Ich freue mich wieder auf Eure/Ihre Zuschriften. 




Zum Abschluss aber noch ein Zitat aus „Hinter drei Sonnenaufgängen“:

„Der Beschleunigungskult führt dazu, dass manche Zeitgenossen den Eindruck gewinnen, innerhalb ihrer Lebenszeit mehr schaffen zu können, als die Vorfahren. Wie viele Kilometer machts Du in der Stunde, am Tag, im Jahr, im Leben? Ich vergewissere mich, dass mir kein Auto folgt, und versuche, mich in einen Langsamkeitsrausch hineinzusteigern, zieh den Fuß langsam vom Gaspedal zurück, bis ich Schritttempo fahre, weniger noch, bis ich fast stillstehe und eins werde mit meiner Umgebung. Die Rhodopenberge kommen mir auf einmal, wie Stufen zum Himmel, die unterste hellgrün, dunkelgrün die nächste, schwarzgrün, dann weiter schwarzblau und immer heller ins Grau, bis sich die Stufen verlieren und weit hinten in lichter Höhe im Dunst verschwinden. Die Potemkinsche Treppe ist nichts dagegen. Ich schwebe!“[2]
In diesem Sinne wünsche ich allen, langsam durchs Leben zu schweben!
Und wer es feiert, dem wünsche ich eine besinnliche Karwoche und dann ein frohes Osterfest!

Herzliche Grüße,
Ihr/Euer Michael A. Schmiedel
http://interreligioeser-rundbrief.blogspot.com/
http://ifn-bonnregion.jimdo.com/

Wer jetzt noch etwas durchs Internet schweben will:


Zu Harald Grill:
http://haraldgrill.de/
https://www.br.de/service/suche/index.html?query=Harald+Grill
Zu Ernst Wiechert:
https://de.wikipedia.org/wiki/Ernst_Wiechert
Zu Anne Weiß & Stefan Bonner:
http://bonnerweiss.de/buecher/wir-kassettenkinder/
Zu André Franquin:
https://de.wikipedia.org/wiki/Andr%C3%A9_Franquin
Zu Hans-Joachim Klimkeit:
https://de.wikipedia.org/wiki/Hans-Joachim_Klimkeit
Zu Stephan Probst:
https://www.palliativ-portal.de/content/dr-med-stephan-probst
Zu Tovin Ben Chorin:
https://www.jewiki.net/wiki/Tovia_Ben-Chorin
https://www.deutschlandfunk.de/rabbiner-tovia-ben-chorin-ich-liebe-atheisten.886.de.html?dram:article_id=338853
Zu Gerhard Baader:
https://www.geschkult.fu-berlin.de/e/fmi/institut/mitglieder/Ausserplanmaessige-_und_Honorarprofessorinnen_und_Professoren/baader.html
https://de.wikipedia.org/wiki/Gerhard_Baader
Zur liberal-jüdischen Gemeinde Beth Shalom:
https://beth-shalom.de/
Zu Sakin Özıšık:
http://www.uni-bielefeld.de/fluege/promovierende/index.html
https://pub.uni-bielefeld.de/download/2901291/2901292/Sakin%20%C3%96zisik_Dissertation.pdf
Zu Religions for Peace:
http://www.religionsforpeace.de
https://de.wikipedia.org/wiki/Religions_for_Peace
https://rfp.org/press-release-religions-for-peace-announces-world-assembly-2019/
https://www.sonntagsblatt.de/artikel/familie/weltkonferenz-fuer-frieden-trifft-sich-2019-lindau




(Den Rundbrief schrieb ich am 10.4.2019 im Zug zwischen Siegburg und Bielefeld und vervollständigte ihn am 12.4. zu Hause.)




[1] Harald Grill. Hinter drei Sonnenaufgängen. Balkan-Streifzüge durch Rumänien und Bulgarien bis Odessa. Viechtach 2018 (edition lichtung), S.  406.
[2] Grill. Sonnenaufgänge. S. 384.