Freitag, Juni 17, 2022

Interreligiöser Rundbrief [...] Nr. 2022-4 (17.06.2022)

 

Interreligiöser Rundbrief für Bonn und Umgebung Nr. 2022-4

(17.06.2022)

„Damit begann ein ungleicher Kampf, den die Abgeordneten – darunter Mullahs, die ihr Entsetzen über den Beschuss nicht verbargen – unmöglich gewinnen konnten. Trotz ihrer Unterlegenheit hinsichtlich der Zahl und der Ausrüstung lieferten sich einige Konstitutionalisten einen furchtlosen Kampf mit den Kosaken, feuerten von den Minaretten auf sie und setzten drei Geschütze außer Gefecht. Damit verfügten die Kosaken aber weiterhin über drei Geschütze, mit denen sie Schrapnelle auf die Verteidiger feuerten, das Dach des Parlamentsgebäudes beschädigten und Löcher in die rückwertige Seite schossen. Der Kampf dauerte nicht länger als vier Stunden und forderte einige Hundert Menschenleben – letztlich ein bescheidener Blutzoll für eine Tragödie, die in der gesamten modernen Geschichte des Iran nachhallen sollte.“

                                                                                                          Christopher de Bellaigue[1]

 

Liebe Leser*innen des interreligiösen Rundbriefes,

 

auf den Interrel. Rundbrief Nr. 2022-3 gab es zwei Leser*innenbriefe, deren einer zur Veröffentlichung gedacht ist:

Hallo Herr Schmiedel,

was für eine beeindruckende Sammlung!

Auf jeden Fall teile ich die implizite Auffassung, dass Oper und Theater inklusive der neueren Formate, wie Kino, in künstlerischer Verdichtung das analysieren, was die historischen Menschen und uns bewegt. Auf keinen Fall darf man hier diese Parsifal-Inszenierung vergessen, deren Klage über die Gottlosigkeit der Gegenwart mir nach Jahrzehnten des positiven Genusses den maximalen, zu Tränen gerührten Respekt des Negativen abgenötigt hat, und die die Schlingensief Inszenierung darin noch übertrifft.

Was produziert die Kunst hier eigentlich? Es ist die Information, die Vergleichsbasis, die uns die Möglichkeit eröffnet, dass wir es im wahren Leben anders und vielleicht besser machen. Zusätzlich trösten die Vorbilder in den Fällen, in denen wir doch scheitern. Der Unterschied zum Religionsgründer ist gering.

Obwohl Sie die eigene Entscheidungsschwäche darstellen, tragen Sie doch Kriterien zusammen. Genau das ist die Aufgabe in der Zeit der Unschärfe, die für Sie und mich und andere vorliegt, solange wir nicht zum Handeln gezwungen sind. Die Beweissicherung und -auswertung kommt vor dem Gericht, das auch erst ganz am Ende entscheidet.

Herzliche Grüße
Harald Bergmann“

Der andere Leser*innenbrief war nur an mich gerichtet und kritisierte meinen Vergleich zwischen dem Krieg in der Ukraine und der Star-Wars-Filmreihe und trat für einen strikten Verzicht auf die Lieferung von Waffen ein.

Danke für beide Rückmeldungen! Praktisch wäre es für mich, immer direkt zu erfahren, ob ein Leser*innenbrief nur für mich oder für alle Leser*innen gedacht ist. Notfalls frage ich nach. Lustigerweise erhalte ich auf Rückfragen dann meistens Antworten wie: „Wenn ich nichts dazu schreibe ist es privat“ oder „Wenn ich nichts dazu schreibe, ist es zur Veröffentlichung gedacht.“


Zum Zitat über dem Rundbrief:

Das Zitat zu Beginn dieses Rundbriefes handelt vom Iran zu Beginn des 20. Jahrhunderts, genauer vom 23. Juni 1908. Damals hatten sich die Iraner ein nationales Parlament gewählt, das dann aber Entscheidungen traf, die den russischen und britischen Interessen am Iran wegen seiner Rohstoffe und seiner strategischen Lage widersprachen, woraufhin die Russen von Norden und die Briten von Süden einmarschierten, da Teheran im Norden liegt, die Russen das Parlament beschossen und auflösten und ein den Großmächten genehmer Schah eingesetzt wurde. Diese und andere ähnliche Erlebnisse führten letztlich auch zu dem Mullahregime, das seit 1979 den Iran beherrscht, denn ein Land, das über Jahrzehnte versuchte, einen Weg zwischen Tradition und Moderne zu finden und dabei von den für die Modernisierung zu Vorbildern gewählten europäischen Staaten immer wieder übers Ohr gehauen und unterdrückt wurde, verliert irgendwann sein Vertrauen in diese Vorbilder und wandelt sie zu Feindbildern. Nicht viel anders erging es dem Osmanischen Reich und den arabischen Ländern. Den Hass auf „den Westen“ haben die damaligen Großmächte großenteils selbst zu Verantworten.


Nochmal zum Krieg in der Ukraine

Hier folgt nun ein Text, den ich schon früher verfasst und mit drei Kolleg*innen diskutiert habe, so dass er letztlich zu einer Teamwork wurde:

*

Gedächtnisnotizen zu Im Namen des Herrn? Kirchen und Religion im Ukrainekrieg

Plakat der Veranstaltung
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Hier zunächst die Liste der Mitwirkenden gemäß der Einladung auf
https://www.uni-bielefeld.de/(de)/ZiF/OeV/2022/05-18-Epple.html:

 

Datum: 18. Mai 2022, 19 Uhr
Leitung: Leif-Hagen Seibert (Bielefeld, GER)

Grußworte:
Prof. Dr. Angelika Epple, Prorektorin für Forschung und Internationales, Univ. Bielefeld
Prof. Dr. Véronique Zanetti, Geschäftsführende Direktorin des ZiF (die Zeile ist gegenüber der Einladung korrigiert)

Einführung in das Thema:
Prof. Dr. Heinrich Schäfer (Theologie, Bielefeld, GER)

Auf dem Podium:
Dr. Sergii Bortnyk (Theologie, Kyjiw, UKR),
Prof. Dr. Thomas Bremer (Ökumenik, Ostkirchenkunde und Friedensforschung, Münster, GER),
Prof. Dr. Julia Herzberg (Geschichte Ostmitteleuropas, München, GER),
PD Dr. Sebastian Rimestad (Religionswissenschaft, Leipzig, GER), (hier ist auch eine Korrektur gegenüber der Einladung)
Dr. Natalia Sinkevych (Geschichte Ost- und Südosteuropas, München, GER)

Moderation:
Dr. Leif-Hagen Seibert (Theologie, Bielefeld, GER)




Das Podium mit Natalia Sinkevych, Julia Herzberg, Leif Hagen Seibert, Sebastian Rimestad+++, Thomas Bremer, auf der Leinwand Sergji Bortnyk und rechts Heinrich Schäfer.
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Und jetzt meine Gedächtnisnotizen, mithilfe von Korrekturen und Ergänzungen durch Leif Hagen Seibert und Sebastian Rimestad:

-          Der Ukraine-Krieg ist kein Religionskrieg. Religion spielt nur eine untergeordnete Rolle, insofern Patriarch Kyrill I. die Russ.-Orth. Kirche vom Patriarchat von Moskau (ROK) Putin ideologisch unterstützt und aus diesem politischen Machtkampf als einen Krieg des Guten und des Lichtes gegen das Böse und die Finsternis erklärt. Das Böse oder die Finsternis wird für ihn vom Westen, von den USA verkörpert. Im Westen herrschen seiner Auffassung nach Dekadenz, Unkultur, Religionslosigkeit, was man vor allem an der dort verbreiteten Homosexualität und Genderbewegung sehe.

-          „In der Ukraine gibt es zwei orthodoxe Kirchen“:
Bis 2018 war nur „die Ukrainisch-Orthodoxe Kirche (UOK), die traditionell dem Moskauer Patriarchat (MP) der Russisch-Orthodoxen Kirche zugeordnet ist und unter ihre Befugnis fällt“, von der Welt-Orthodoxie anerkannt.
Zum anderen „die Orthodoxe Kirche der Ukraine“ (OKU): „Sie entstand 2018/19 durch die ‚Fusion‘ der Ukrainisch-Orthodoxen Kirche des Kiewer Patriarchats“ (UOK-KP) (in den 1990ern von der UOK-MP abgespalten“, aber von der Welt-Orthodoxie nicht anerkannt) „und der Ukrainischen Autokephalen Orthodoxen Kirche“ (die in den 1920ern gegründet worden war und vor allem in Nordamerika die Sowjetzeit überlebte, aber von keiner anderen Orthodoxen Kirche legitimiert). „Mit der Anerkennung der OKU durch Bartholomäus I., dem Ökumenischen Patriarch von Konstantinopel, löste sie sich aus dem postsowjetischen Bezug und distanzierte sich von der Russisch-orthodoxen Kirche“ (ROK), die sie auch nicht anerkennt.
(Dieser Absatz verwendet Formulierungen aus Universität Bielefeld, Forschung/Story, „Putin und Kyrill profitieren beidseitig von Legitimation“, 12. Mai 2022, Autor*in: Moritz Schmidt-Degenhard,
https://aktuell.uni-bielefeld.de/2022/05/12/putin-und-kyrill-profitieren-von-beidseitiger-legitimation/ , aufgerufen am 01.06.2022, die in Anführungsstriche gesetzt sind)

-          Außerdem gibt es Griechische Katholiken, Römische Katholiken, Protestanten, wobei diese Kirchen allesamt Minderheitenkirchen sind, Juden und Muslime. Weitere Religionen wurden nicht genannt. Das Besondere an der Griechisch-Katholischen Kirche ist, dass sie nach griechischem Ritus feiert, aber den Papst als Oberhaupt anerkennt und ihr Verhältnis sowohl zu den Orthodoxen Kirchen, als auch zur Römisch-Katholischen Kirche sehr problematisch ist.

-          Die Russisch-Orthodoxe Kirche (ROK) ist die größte Orthodoxe Kirche weltweit, wobei 1/3 der Gemeinden dieser Kirche, die zudem die reichsten sind, sich in der Ukraine befinden (UOK-MP). Demzufolge wäre der Verlust dieser Gemeinden für die ROK ein schwerer Schlag. Kyrill sieht auch deshalb Russland, Belarus und die Ukraine als eine kirchlich-politische Einheit mit Wurzeln in der Kiewer Rus. (Anmerkung von Leif Hagen Seibert: Das ist korrekt, ich würde aber trotzdem anmerken wollen, dass sich das intellektuelle Zentrum der östlichen Orthodoxie im Laufe der Jahrhunderte mehrfach verschoben hat. Es liegt jetzt zwar wieder in Kiew, wo es im 9./10. Jh. schon einmal war, aber die Kontinuität, die da gezeichnet wird, scheint mir in der orthodoxen Ökumene deutlich strittiger zu sein als unter den Ukraine-Experten.)

-          Es gibt einen Streit zwischen den Patriarchaten von Moskau und von Konstantinopel, wobei beide ihren Einfluss auf die Ukraine geltend machen, oft über die Köpfe der Ukrainer hinweg.

-          Die Autokephalie der Orthodoxen Kirchen in enger Verbindung mit der jeweiligen weltlichen Herrschaft des Staates hat sich nach dem Ende des Osmanischen Reiches bzw. auch schon während der Unabhängigkeitskriege in Südosteuropa entwickelt. Der im 19. Jh. entstandene Nationalismus verband sich mit der Autokephalie. Dabei unterscheidet sich aber das Selbstverständnis der ROK, die schon im 15./16. Jh., lange bevor das Konzept des modernen Nationalstaats zur Debatte stand, unabhängig wurde, von dem der anderen orth. Kirchen, insofern diese sich nicht nur als nationale, sondern als imperiale Kirche, als die Kirche des 3. Rom sieht. Sebastian Rimestad ergänzt hier, dass jede Orthodoxe Kirche einen Alleinvertretungsanspruch für ihre Nation hat, also keine Pluralität der Denominationen anerkennt.

-          Wichtiger als die Religionszugehörigkeit ist aber die nationale Identität. Über die Grenzen der Religionszugehörigkeiten hinweg fühlen sich die Menschen der Ukraine entweder sehr als Ukrainer oder als was anderes bzw. ihre Bindung an die ukrainische Nationalität ist unterschiedlich stark.

-          Die Muslime teilen sich vor allem in Krimtataren, die sich als Ukrainer sehen, und solche aus Russland oder anderen GUS-Staaten auf, die sich nicht so sehr als Ukrainer sehen.

-          Die Juden sehen sich in erster Linie als Ukrainer und in zweiter Linie als Juden. Viele haben internationale Vernetzungen z.B. nach Israel und können über diese an Hilfsgüter gelangen, die sie dann nicht nur an Juden, sondern an alle Ukrainer verteilen.

-          Der Papst im Vatikan verurteilt zwar den Krieg, nennt aber keinen Schuldigen und versucht diplomatisch, Kyrill zu beeinflussen, der das aber so hinstellt, als stünde der Papst hinter ihm.

-          Die Religionsgemeinschaften werden den Krieg nicht beenden können, dazu fehlt es ihnen an Macht und Einfluss und im Falle der ROK und der UOK-MP auch am Willen. Aber auch wenn Kyrill seine Meinung ändern würde, würde sich Putin wohl kaum von ihm beeinflussen lassen, sondern ehr der ROK und der UOK-MP Privilegien nehmen und ihnen schaden.

-          Eine wichtige Rolle können die Religionsgemeinschaften aber spielen, wenn der Krieg einmal vorbei ist, und zwar beim Wiederaufbau der Zivilgesellschaft und der Stabilisierung des Friedens zwischen den unterschiedlichen Gruppen der Bevölkerung der Ukraine und vielleicht auch zwischen der Ukraine und Russland.

-          Hier noch eine Einschätzung des inner-orthodoxen Konfliktes von Sebastian Rimestad: Es ist ein Konflikt auf kirchenadministrativer Ebene, bei dem die Gläubigen wenig konkretes Interesse aufzeigen. Allerdings wächst dieses Interesse durch den Krieg, da sie sich fragen, wie es denn sein kann, dass ihr offizielles Kirchenoberhaupt - Patriarch Kyrill von Moskau - den blutigen Krieg immer noch gutheißen kann. Ob und wie die Orthodoxie in der Ukraine überleben kann und wird, bleibt aber immer noch offen.

 

Soweit meine Gedächtnisnotizen, ohne zu berücksichtigen, wer was gesagt hat. Vieles fehlt, aber ich hoffe, das Wichtigste erfasst zu haben. Danke an Leif Hagen Seibert und Sebastian Rimestad für ihre Ergänzungen und Korrekturen, die ich nicht immer namentlich gekennzeichnet habe und auch an Ramona Bullik für eine Korrektur bei den Namen der Grußwortsprecher*innen.

 

Thomas Bremer wurde am 25.05.2022 später von Christian Röther in der Sendung „Tag für Tag. Aus Religion und Gesellschaft“ im Deutschlandfunkt zu diesem Thema interviewt mit dem Schwerpunkt auf der 1917 gegründeten Russisch-Orthodoxen Kirche im Ausland:
https://www.deutschlandfunk.de/die-russische-orthodoxe-kirche-im-ausland-im-gespraech-mit-thomas-bremer-dlf-915558d6-100.html , aufgerufen am 30.5.2022.

 

Michael A. Schmiedel, Siegburg bzw. im IC zwischen Köln und Bielefeld oder umgekehrt, 20./30./31.5./1./3.6.2022

*

Soweit also das Gedächtnisprotokoll mit einigen Ergänzungen. Vielleicht bringt es auch Euch/Ihnen etwas Licht in die komplizierten Zusammenhänge der Orthodoxen Kirchen in der Ukraine und ihrer Rolle in diesem Krieg.

Ich beende damit auch schon diesen Rundbrief mit einem Zitat, das aus einer ganz anderen Literaturgattung stammt und positive Stimmung ins Gemüt zaubern soll:

„Er öffnete das Fenster. Der herrliche Morgen lag draußen wie eine Verklärung über dem Lande und wußte nichts von den menschlichen Wirren, nur von rüstigem Tun, Freudigkeit und Frieden. Friedrich spürte sich durch den Anblick innerlichst genesen, und der Glaube an die ewige Gewalt der Wahrheit und des festen religiösen Willens wurde wieder stark in ihm. Der Gedanke, zu retten, was noch zu retten war, erhob seine Seele, und er beschloß, nach der Residenz abzureisen.“

Und:
„[…] die Weihe großer Gedanken für den Tag zu empfangen […]“

Joseph von Eichendorff[2]

 

Herzliche Grüße,
Ihr/Euer Michael A. Schmiedel

(Geschrieben am 15.06.2022 im RXX von Hamm nach Köln und mit Fotos und Links versehen zu Hause in Siegburg am 17.06.2022 (dem ehem. Tag der deutschen Einheit).)

interreligioeser-rundbrief.blogspot.com

 

 



[1] Christopher de Bellaigue. Die islamische Aufklärung. Der Konflikt zwischen Glaube und Vernunft. 1798 bis heute Frankfurt a.M. (Fischer) 2018, S. 148f. (Übersetzt aus dem Englischen von Michael Bischoff).

[2] Joseph von Eichendorff. Ahnung und Gegenwart. In: Erzählende Dichtungen = Romantiker (ein Band von sechs, ohne Nummerierung) Augsburg (Weltbild Bücherdienst) o.J. (ca. 1985), S. 108 und S. 125. (Erstausgabe: Nürnberg (Johann Leonhard Schrag) 1815.)