Donnerstag, Dezember 05, 2019

Interreligiöser Rundbrief ... Nr. 2019-6 (05.12.2019)


Interreligiöser Rundbrief für Bonn und Umgebung Nr. 2019-6
(05.12.2019)



„Erst in der Rezeption dieses Wissens ist der Interpret in der Lage, den Bestand seiner Begrifflichkeiten und damit den Horizont seines Denkens auf ein anderes Denken hin zu erweitern und etwas Neues zu lernen. Wenn er sich dagegen von den expliziten Mitteilungen in Form von Begriffen und Lehren abwendet und nach regelhaften Strukturen, Funktionen o.Ä. sucht, die ohne das Wissen der betreffenden Menschen ihr Denken bestimmen und erst vom Interpreten expliziert werden, ist er gezwungen, diese Strukturen etc. mit seinen eigenen Begrifflichkeiten zu beschreiben: dabei wird das Andere auf das Eigene reduziert, ohne dass eine Horizonterweiterung stattfindet.“
                                                                                                     Karsten Schmidt[1]

Liebe Leserinnen und Leser,
zum letzten interreligiösen Rundbrief erhielt ich unter anderem folgende zwei Leserbriefe:

1. Oh!!   Lieber Michael.  Das war eine Meisterleistung von dir, sinnvoll und fundiert. Ich kann nur hinzu fügen: Wer an „TOHID“ glaubt und versteht, dass alle Bestandteile der Schöpfung sich gegenseitig brauchen, handelt verantwortungsbewusst zur Erhaltung der Natur und des Friedens unter den Menschen. Ja, die Religion muss die Politik den Weg zur Erhaltung der Umwelt und des Friedens zeigen.
Ich danke dir herzlich, erlaube mir deine Schrift weiterzuleiten
Mit herzlichen Grüßen
Hossein

(von Hossein Pur-Khassalian aus Bonn)
(„TOHID“, auch „Taohid“ oder „Tauhid“ geschrieben, meint die Einheit Gottes in islamischer Terminologie. MAS)

2. Lieber Michael,
leider haben wir schon längere Zeit keinen nennenswerten Kontakt gehabt. […]
Vielen Dank für den Rundbrief und Deine Gedanken zur Verbesserung des zwischenmenschlichen Zusammenlebens.
Du schreibst das, was wir alle wissen sollten, was wir wissen, was wir aber nicht ändern können oder wollen.
Der Mensch, als nicht vorhersehbare Fehlentwicklung in der Evolution, wird sich selbst aussterben lassen.
Mit Gebeten können wir nur unsere Hoffnungen befriedigen, aber keine Weltprobleme lösen.
Ja, auch ich höre fast jeden Morgen den (christlichen) Morgengruß, in der Hoffnung etwas Erbauliches für den Tag zu erhaschen.
Ab und an suche ich in Predigten Antworten zu finden auf Fragen, die bis dato unbeantwortet blieben.
Es wird immer und überall auf Missstände hingewiesen, aber nur wenige Zeitgenossen*innen krempeln die Ärmel hoch und packen die Probleme an.
Wir brauchen Helden aber keine Propheten.
Herzliche Grüße ….ganz besonders an Petra
Helmut

(von Helmut Bleifeld aus Neurath)


Selbstverständlich dürfen meine interreligiösen Rundbriefe weitergegeben werden.

Helden. Das erinnert mich an einen Kollegen in Bielefeld, der an unserer gemeinsamen Bürotür das Schild mit der Aufschrift hängen hatte: Helden zu mir!
Ja so ein Superheld wäre fein, der die Bösewichte aus dem Verkehr zieht und die Ordnung wiederherstellt. Oder einer, der es versteht, die Törichten und Gierigen Mores zu lehren, damit sie einsehen, was sie alles falsch machen. Aber so ein Held wäre ja vielleicht auch wieder ein Prophet.

Wie sieht es aber auch mit unseren Erkenntnissen und unseren Illusionen? Neulich ging ich in meiner Herkunftsstadt Lahnstein einen altvertrauten Weg, ein kleines, steiles Pfädchen, das von der Kölner Straße zwischen zum Teil verwilderten Gärten hindurch hinauf zur Taubhausstraße führt. Ich liebte dieses Pfädchen auch als Jugendlicher sehr und war nun gefühlsmäßig so 38 Jahre in der Vergangenheit, zum Beispiel auf dem Weg von der Schule nach Hause, wo meine Eltern noch lebten und mir ein behagliches zu Hause boten. Es war das damals normale Gefühl, das in mir aufstieg, ein Gefühl von Heimat und Geborgenheit und zugleich von Weite und Zukunft. Damals mit 17 Jahren flog ich mit meinem Bruder in die USA und saß dann mit ihm am Rand des Grand Canyon, die Beine in die Tiefe baumeln lassend, über uns am blauen Herbsthimmel ein kreisender Rotschwanzbussard. Alles vergangen, alles vorbei. Meine Eltern leben schon lange nicht mehr und dieser mein Bruder nun auch nicht mehr. Ich war nun unterwegs zu meiner Schwester, die noch in Lahnstein lebt, und zu meinem anderen Bruder, der an dem Tag auch da war. Mein Kindheitszuhause ließ ich links liegen, aber verdrängte nicht das Gefühl, als sei das alles Gegenwärtig, das ich so sehr genoss, sondern ließ es zu, gab ihm Raum, ließ es wirklich sein, obwohl ich wusste, dass es eine Illusion war, dass es diese Jugend nicht mehr gab und nie mehr geben wird.

Auch neulich fand die Bonner Buchmesse Migration statt. Einen Abend und drei Tage tauchte ich ein in Lesungen, Diskussionen, Gespräche, Musik und zwischenmenschliche Begegnungen verschiedener Art. Ich wählte aus, was mich interessierte, machte Fotos für die Veranstalter, die Evangelische Migrations- und Flüchtlingsarbeit, und genoss das alles einfach. Da war zum Beispiel das Trio Transaesthetics, das bei der Eröffnung eine groovige Mischung aus türkischem und europäischem Jazz spielte. Da waren Georg Schwikart und Jürgen Alt, die über den religiösen Pluralismus unserer Gesellschaft nachdachten. Da war Marion Rissart, die über Schicksale weiblicher Flüchtlinge informierte. Da war Feryad Fazil Omar, der 25 Jahre lang das Epos der Kurden „Mem u Zin“ ins Deutsche übersetzt hat und dieses nun präsentierte. Da war H?d?r Çelik, der über seine Herkunftsheimat Dersim als Geburtsstätte der alevitischen Legenden erzählte. Da war Emel Zeynelabidin, die von ihrer Emanzipation von einem traditionellen Islam hin zu einem selbstbestimmten Islam berichtete. Dar war Philip Gondeki der das Buch „Aktiv für Vielfalt“ des Houses of Resources vorstellte. Da war Mario Anastasiadis, der uns einen Faktencheck über die Berichterstattung der Medien über das Flüchtlingsthema 2015/16 gab. Da war Mohamed Magani, der sicher auch was Interessantes sagte, aber mein Französisch war zu schlecht, um ihn zu verstehen. Da war Christian van den Kerckhoff, der die Technik überlistete, um uns einen Film von Adela Peeva über die Suche nach der Herkunft eines in vielen Völkern Südosteuropas verbreiteten Liedes erzählte und von den einander anfeindenden Besitzansprüchen auf eben dieses Lied. Da waren Aladin El Mafaalani und Andreas Zick, die uns erklärten, dass gelungene Integration neue Probleme hervorbringe und dass gerade die Offenheit der Mitte unserer Gesellschaft den politisch rechten Rand zum Widerstand provoziere. Da war das IFN-Podium über Religion und Demokratie, an dem Marianne Horling, Ruth Kühn, Ayfer Dagdemir, Aziz Fooladvand, Helia Daubach, Francesco Conidi und auch ich teilnahmen, welches deutlich machte, das Religionen keine statischen Gebilde sind und Demokratieunvermögen und Demokratieförderung gleichermaßen anzutreffen sind.

Da waren noch viele andere interessante Erlebnisse, und nicht alle waren erbaulich, sondern einige schwierig. Da war der Alevit der Muslime generell für nicht nachdenkend, sondern immer nur loyal zu allem Ja sagend, was der Koran vermeintlich befehle, hinstellte. Und Emel Zeynelabidin sagte es fast genauso, nur nicht auf alle Muslime, sondern nur auf die Traditionalisten bezog. Da waren die Vertreter des Instituts für Palästinakunde, die informieren oder werben wollten für einen Boykott israelischer Kultur als Protest gegen die Besetzung palästinensischer Gebiete durch Israel, und die deswegen aufgefordert wurden, das Haus der Geschichte zu verlassen. Da war die, wie sie sich vorstellte, „bibeltreue Christin und bekennende AfD-Wählerin“, die unser Podium „enterte“ und Statements von sich gab, auf die wir eingingen, auch wenn wir ihnen nicht zustimmten. So wurden Probleme offensichtlich, die nicht einfach zu lösen sind. Wie kommt man zu dem notwendigen Wissen, um zu sehen, was richtig und was falsch ist? Genügen da Faktenchecks auf Grundlage empirischer Forschung? Was ist, wenn den Fakten nicht geglaubt wird, weil man ihnen nicht glauben will? Wie überzeugt man Menschen, die einem nicht glauben? Die einem misstrauen? Oder wie kann man Vertrauen fassen, wenn man selber nicht glaubt, was einem da gesagt wird? Oder wie kann man zwei Positionen, von denen man meint, beide hätten ein wenig Recht und ein wenig Unrecht, dazu bringen, das auch so zu sehen?

Wie schaffen wir es, einander richtig zu verstehen? Ich bekam auch mal eine Antwort auf eine Frage, die ich nicht gestellt hatte und fühlte mich missverstanden. Karsten Schmidt, von dem das Zitat oben stammt, schrieb eine ganze Doktorarbeit über die Problematik, von einen europäisch-religiösen und -philosophischen Vorverständnis her, den Buddhismus verstehen zu wollen. Das Zitat ist so was wie die Quintessenz seiner Erkenntnis. Sie lässt sich auch auf andere interkulturelle Verstehensversuche übertragen. Doch setzt sie eines voraus: Das echte eigene Interesse, wirklich zu versehen und das Vertrauen darein, dass der Andere auch verstanden werden will. 

Die Bonner Buchmesse Migration zeigte mir jedenfalls, dass es notwendig ist, zuzuhören und verständlich zu reden, auf dass Kommunikation auch gelingt. Chancen dafür gibt es immer wieder, aber schnell sind sie oft auch schon wieder vorbei. So sollte man sie nützen, wenn sie sich einem bieten.
Angesichts der immer tiefer gezogenen ideologischen Gräben in unserer globalen Gesellschaft 30 Jahre nach dem Ende des kalten Krieges zwischen West- und Ostblock und angesichts des darüber hängenden Damoklesschwertes des Klimawandels ist es dringend geboten, aufeinander zu zugehen. Sonst tritt noch tatsächlich ein, was Helmut Bleifeld oben prophezeit hat: „Der Mensch, als nicht vorhersehbare Fehlentwicklung in der Evolution, wird sich selbst aussterben lassen.“


Zum Abschluss noch ein Zitat:

„Im reflexiven Selbstbewusstsein gestaltet der geistige Prozess den geistigen Prozess. Der Geist führt gleichsam eine Operation an sich selbst aus. Geistige Handlungen bewirken geistige Handlungen. Wenn der Geist erkennt, wie er sich im Erkennen formt und selbst gestaltet, beginnt der Weg der Befreiung.“
                                                                                                                  Werner Vogd[2]


Herzliche Grüße im Advent 2019
und allen die es feiern einen Advent, eine Wintersonnenwende und eine Weihnacht oder auch ein Chanukka-Fest voller Freude!
Ihr/Euer Michael A. Schmiedel
http://interreligioeser-rundbrief.blogspot.com/ 
https://ifn-bonnregion.jimdo.com/
https://ekvv.uni-bielefeld.de/pers_publ/publ/PersonDetail.jsp?personId=38488082

Und nun ein paar weiterführende Links:
Lahnstein:
https://de.wikipedia.org/wiki/Lahnstein
Bonner Buchmesse Migration 2019:
https://www.bonnerbuchmessemigration.de/?page_id=2287 (dort kann man sich durch das Programm klicken und über die von mir erwähnten und alle anderen Programmpunkte mehr erfahren)
Karsten Schmidt:
https://www.uni-frankfurt.de/54857770/Schmidt
Werner Vogd:
http://www.werner-vogd.de/Werner_Vogd.html

(Diesen Rundbrief schrieb ich am 4.12.2019 im IC von Bielefeld nach Köln und am 5.12.2019 zu Hause in Siegburg.)



  






[1] Karsten Schmidt. Buddhismus als Religion und Philosophie. Probleme und Perspektiven interkulturellen Verstehens. Stuttgart 2011 (Kohlhammer), S. 288.
[2] Werner Vogd. Welten ohne Grund. Buddhismus, Sinn und Konstruktion. Heidelberg 2014 (Carl Auer), S. 158.

Donnerstag, Oktober 24, 2019

Interreligiöser Rundbrief ... Nr. 2019-5 (24.10.2019)


Interreligiöser Rundbrief für Bonn und Umgebung Nr. 2019-5
(24.10.2019)


„Herr, unsere Erde ist nur ein kleines Gestirn im großen Weltall.
An uns liegt es, daraus einen Planeten zu machen
dessen Geschöpfe nicht von Kriegen gepeinigt werden,
nicht von Hunger und Furcht gequält,
nicht zerrissen durch sinnlose Trennung nach Rasse, Hautfarbe oder Weltanschauung.
Gib uns Mut und Voraussicht, schon heute mit diesem Werk zu beginnen,
damit unsere Kinder und Kindeskinder einst stolz den Namen Mensch tragen.
Amen“
Gebet der Vereinten Nationen 

Liebe Leserinnen und Leser,

das Gebet oben entnahm ich einer Textsammlung, zusammengestellt für die Veranstaltung „Interreligiöses Gebet für die Schöpfung im Rahmen der interreligiösen Naturschutzwoche“, und zwar der in Köln, maßgeblich organisiert von der Religionswissenschaftlerin Cary Dohe. Diese konkrete Veranstaltung fand am Sonntag, dem 15.9.2019 bei Kerpen-Buir am Rande des Hambacher Forstes statt, der dem Wahnsinn geopfert wird. Ein Tag später fanden unsere Bonner GEBETe der Religionen im Alten Rathaus in Bonn statt. Interreligiöse Naturschutz- und Gebetsveranstaltungen gibt es inzwischen viele in Deutschland. Sie scheinen notwendig zu sein, auch wenn man sich fragen mag, ob sie die Not wenden können, die Not die durch menschliches Verhalten entsteht, durch das wir Menschen unsere eigenen Vorteile ohne Rücksicht auf andere Menschen, Tiere, Pflanzen und andere Lebewesen zu realisieren versuchen.

Was nützen schon Gebete? Was nützt ein Schweigen für Frieden und Gerechtigkeit? Reinhold Mokrosch von Religions for Peace Osnabrück sagte, einige Leute hätten zu Veranstaltungen zu Naturschutz und Religion gesagt, zum Naturschutz-Teil kämen sie gerne, Religion interessiere sie nicht. Ja, wozu bringt man denn da Religion ins Spiel, wo es doch eine Angelegenheit der Politik, der Wissenschaft und der Wirtschaft ist, für Frieden und Naturschutz zu sorgen? Nun ja, Wissenschaftler*innen warnen seit 40 Jahren vor den Folgen des CO2-Ausstoßes, vor den Folgen wirtschaftlicher Ausbeutung noch viel Länger. Politiker*innen, sofern nicht nur an der eigenen Macht interessiert, versuchen das so genannte Menschenmögliche, aber müssen vor allem immer wieder Rücksicht auf wirtschaftliche Interessen nehmen. Und die Wirtschaftler*innen, sofern nicht nur am eigenen Profit interessiert, müssen im Konkurrenzsystem bestehen, wenn sie nicht Konkurs anmelden wollen. Und im Konkurrenzsystem geben die Profitsüchtigen den Ton, das Tempo und die Richtung an, bis hin zu den Konsument*innen, deren Profitgier darin besteht, möglichst wenig Geld für möglichst viele Waren ausgeben zu wollen. Bleibt uns also doch nur noch das Gebet zur Notwendung?

Auf der kommenden Bonner Buchmesse Migration wird das Interreligiöse Friedensnetzwerk Bonn und Region ein Podiumsgespräch zum Thema „Religion und Politik“ durchführen. Ich bin gespannt, was wir alles dabei besprechen werden. Von „Religion ist Privatsache“ bis „die Politiker sollten sich mehr an religiösen Werten orientieren“ kann alles aufs Tablett kommen. Auch „Politik hat in Predigten nichts zu suchen“ könnte eine Forderung sein. Wir sind es gewohnt, den verschiedenen Untersystemen von Kultur und Gesellschaft, also Politik, Wirtschaft, Religion, Wissenschaft, Kunst und so weiter jeweils eine Freiheit von den anderen zuzugestehen. Neulich besuchte ich im Siegburger Pumpwerk eine Veranstaltung zum Thema „Freiheit der Kunst“ und zwar von der Instrumentalisierung durch Politik. Ich gab dabei zu bedenken, dass, wenn die verschiedenen Systeme immer mehr nur auf ihre jeweilige Freiheit pochen, die Integration des Ganzen verlorengehen könnte. Selbst die Unteruntersysteme wie die verschiedenen Wissenschaften pochen auf ihre jeweilige Unabhängigkeit voneinander. Mir scheint das extrem zu sein, nicht weniger, als wenn ein Subsystem alle anderen beherrschen will. Das scheint mir die Wirtschaft nämlich zu tun, die als alleiniges Untersystem meint, nur wirtschaftlichen Gesetzen folgen zu müssen, während alle anderen neben den je eigenen auch noch den wirtschaftlichen Zwängen untertan sind. Wäre es nicht besser, wenn alle ihre Freiheit zumindest hin und wieder dazu benutzten, sich des gemeinsamen Kulturseins bewusst zu werden und gemeinsam daran arbeiten, Probleme zu lösen, interdisziplinär, interreligiös, interkulturell?

Und während solche Gedanken in mir reifen steigt die globale Temperatur unaufhörlich, ermordet ein Terrorist zwei Menschen vor der Synagoge in Halle, weil er in die Synagoge nicht hinein kommt und lässt der türkische Präsident seine Truppen in den auf syrischem Staatsgebiet befindlichen Teil Kurdistans einmarschieren und nennt die, die ihr Land, ihre Freiheit und ihr Leben verteidigen „Terroristen“. Ich fühle mich an den deutschen Einmarsch in die Tschechoslowakei 1938 erinnert und den in Polen im Jahr darauf. Ja, wir hatten auch mal so einen Führer. Wir brauchen da nicht mit den Fingern auf die Türken zu zeigen. Gier nach Macht ist weltweit vorhanden und manchmal personifiziert sie sich sogar in demokratisch gewählten Politikern. Aber es ist schon zum Verzweifeln, dass es mit dem Wahnsinn gar kein Ende nehmen will! Da ist mir zum Beten zu Mute!

Dabei haben die meisten von uns das Glück, noch nicht direkt betroffen zu sein. Noch geht es uns gut. Noch haben wir unseren Wohlstand, noch recht große Sicherheit auf den Straßen und in unseren Heimen, noch haben wir genug zu essen und zu trinken, noch müssen wir nicht um Trinkwasser kämpfen oder uns gegen Pogrome durch Menschen verteidigen, die für ihre Misere Schuldige suchen, die am besten schwächer sind als sie selbst. Noch nicht! Und damit das so bleibt, machen wir die Augen zu, ziehen die Vorhänge vor, ziehen die Zugbrücke hoch, und sagen, das alles habe mit uns ja gar nichts zu tun. Das Klima habe sich schon immer gewandelt, Kriege habe es schon immer gegeben und Juden seien schon immer verfolgt worden. Alles ganz normal! Wir seien unschuldig an all dem. 

Und in diesem Stadium der Selbstzufriedenheit fordern wir die fein säuberliche Trennung der gesellschaftlichen Bereiche voneinander. Derweil aber, anfangs unbemerkt, sitzt da ein Mädchen in Stockholm und fordert ganz alleine eine Wende der Klimapolitik. Sie bleibt nicht lange alleine, Schüler*innen setzen sich zu ihr, die Medien, dann die Politik werden auf die aufmerksam, und ein Jahr später demonstrieren weltweit Hunderttausende von vor allem jungen Leuten und skandieren „Wir sind hier, wir sind laut, weil ihr uns die Zukunft klaut“. Die Gretchenfrage lautet nicht mehr „Wie hältst du es mit der Religion?“, sondern „Wie hältst du es mit dem Klima?“ „Die Natur lässt nicht mit sich verhandeln“, sagt der UN-Generalsekretär. Und Greta Thunberg spielt wahrscheinlich unbewusst einen Trumpf aus: sie ist (noch fast) ein Kind, sie ist ein Mädchen, so dass die Menschen, wohl auch zumeist unbewusst, Vorstellungen von kindlicher, jungfräulicher Reinheit auf sie projizieren. Zudem haben seit „Rain Man“ viele Filme und Fernsehserien eine Sympathie für Menschen mit Asperger Syndrom wachsen lassen, jene Menschen, die zugleich hoch intelligent und doch irgendwie sehr naiv erscheinen, wodurch sie auch wieder das Gefühl kindlicher Unschuld wachsen lassen. Und dann redet Greta wie eine Prophetin. Oder ist sie gar eine? „Es wird geschehen, ob ihr es wollt oder nicht“, sagt sie und warnt, ja droht: „Dass ihr es wagt!“  Ja, vielleicht spricht da eine Prophetin vor den Vereinten Nationen.  UN? Ach ja, da sind wir wieder beim Gebet der Vereinten Nationen. Ich weiß nicht, aus welchem Jahr es stammt, sicher nicht erst aus diesem oder dem letzten. Da vereinen sich Politik und Religion sinnvoll.

Zu beten ist aber keine Alternative zum politischen und wirtschaftlichen Handeln, sondern eine Ergänzung, eine Unterstützung, eine Kraftquelle. „Zuerst binde dein Kamel an und dann vertraue auf Gott, dass es nicht wegläuft“ heißt es in islamischen Sprichwort. Ähnliche Weisheiten findet man in vielen Religionen. Zur Weisheit gehört Wissen, für das Wissen sorgt vor allem die Wissenschaft. Die kann man ignorieren, was nicht weise wäre. Die Natur hat uns die Fähigkeit des Denkens geschenkt. Wir haben vom Baum der Erkenntnis gegessen. Nun sollten wir aber auch mal die Konsequenzen ziehen und lernen, das Denken auch richtig zu benutzen. Nicht nur um Macht und Profit zu erlangen, sondern um zu überleben auf diesem Planeten und dann um gut miteinander zu leben, auf diesem winzigen Gestirn namens Erde.

Die Natur schenkte uns aber noch eine andere Fähigkeit: das Fühlen. Das funktioniert meistens noch besser, aber noch nicht optimal. Das Problem ist, dass Denken und Fühlen oft nicht miteinander harmonieren. Wissenschaftler*innen sagen, unser Fühlen befinde sich oft noch in der Steinzeit, unser Denken in der Zeit der Raumfahrt. Stammesdenken, also Kleingruppensolidarität, verhindere oft das Fühlen und Denken in globalen Maßstäben und die Solidarität mit Mitgliedern anderer Stämme, also Gruppen, sagt die Neurowissenschaftlerin Maren Urner. Wir müssen also nicht nur richtig denken, sondern auch richtig fühlen lernen, um die Not zu wenden. Religion hat viel mit Gefühlen zu tun. So sagte schon 1917 Rudolf Otto, in religiösen Begegnungen fühlten wir Faszination, Schrecken und Erhabenheit. Das müssen wir mal an uns heranlassen. Mitgefühl und Nächstenliebe sind ethische Forderungen auf Gefühlsbasis. Gekoppelt mit der Weisheit richtigen Denkens können sie uns fähig machen, die Not zu wenden. „Mitgefühl ohne Weisheit ist blind, Weisheit ohne Mitgefühl ist kaltherzig“, sagt ein buddhistisches Sprichwort. Gebete und Meditationen können uns helfen, das richtige Denken und das richtige Fühlen zu trainieren. Strategien der Steinzeit helfen heute wenig. 
Lasst uns endlich im Heute ankommen, damit wir auch morgen noch auf dieser Erde leben können, denn wir haben nur diese eine!   
     


Herzliche Grüße,
Ihr/Euer Michael A. Schmiedel
http://interreligioeser-rundbrief.blogspot.com/


(geschrieben am 23.10.2019 in zwei Zügen zwischen Bielefeld, Köln und Siegburg)

Hier noch ein paar weiterführende Links:





Paula Konersmann. „Ach, jetzt machen die Religionen auch noch Naturschutz“. Katolisch.de am 2.9.2018:
https://www.katholisch.de/artikel/18780-ach-jetzt-machen-die-religionen-auch-noch-naturschutz

Bonner Buchmesse Migration: https://www.bonnerbuchmessemigration.de/

 

ZDF. Markus Lanz vom 22. Oktober 2019. Zu Gast: Zu Gast: Kriminalbiologe Mark Benecke, Politiker Klaus Töpfer, Klimaaktivistin Luisa Neubauer und Neurowissenschaftlerin Maren Urner: https://www.zdf.de/gesellschaft/markus-lanz/markus-lanz-vom-22-oktober-2019-100.html


Das Phänomen Thunberg. Greta als Allheilsbotschafterin. Carsten Schmiester im Gespräch mit Axel Rahmlow. Interview / Archiv | Beitrag vom 17.04.2019. Deutschlandfunk: https://www.deutschlandfunkkultur.de/das-phaenomen-thunberg-greta-als-allheilsbotschafterin.1008.de.html?dram:article_id=446640


Anschlag in Halle (Saale) 2019. Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Anschlag_in_Halle_%28Saale%29_2019  

Türkische Invasion in Nordsyrien. Islamkenner: Keine Siegesgebete in deutschen DITIB-Gemeinden. Abdul-Ahmad Rashid im Gespräch mit Levent Aktoprak. In: Tag für Tag, aus Religion und Gesellschaft. Deutschlandfunk am 22.10.2019: https://www.deutschlandfunk.de/tuerkische-invasion-in-nordsyrien-islamkenner-keine.886.de.html?dram:article_id=461662


Maren Urner. Perspective Daily: https://perspective-daily.de/article/author/5  


ZDF. Terra X. Wildes Wetter – Auf den Spuren der Klimaforschung. Sendung vom 20.10.2019:  https://www.zdf.de/dokumentation/terra-x/wildes-wetter-auf-den-spuren-der-klimaforschung-100.html


(Links geöffnet am 24.10.2019, Terra X-Link am 25.10.2019.)