Interreligiöser Rundbrief für Bonn
und Umgebung Nr. 2022-1
(13.03.2022)
Das eine möchte ich Euch allen ans Herz legen:
Leben und Tod sind eine ernste Sache.
Darum seid stets achtsam,
Niemals achtlos,
Niemals nachlässig!
Abendruf
aus dem Zen-Buddhismus
„Auf dem Friedhof in Hangelar, einem Ort dicht an Bonn, in
dem ich lebe, liegen zwei besondere Gräber dicht nebeneinander. Im einen ruht
ein Mann, der 100 Jahre alt wurde. Im anderen ein Kind, am Tag seiner Geburt
verstorben.“
Liebe Lesende meines interreligiösen Rundbriefs,
das, was Georg Schwikart in seinem neuen Buch beschreibt,
erlebte ich auch neulich auf dem Koblenzer Zentralfriedhof: Gräber sogenannter
Sternenkinder, die vor ihrer oder am Tag ihrer Geburt gestorben sind. Und auf
der andern Seite Gräber von Menschen, in im hohen Alter von uns gingen. An dem
Tag bestatteten wir meinen Onkel Hans, der, so wie auch die interreligiösen und
religionswissenschaftlichen Persönlichkeiten, deren Nachrufe ich in den letzten
zwei Monaten rundschickte, also Ernst-Wolf Kleinwächter (21.06.1929-11.01.2022), Hans-Jürgen
Greschat (03.03.1927-13.01.2022), und Thich
Nhat Hanh (11.10.1926.-22.01.2022) ein
langes, erfülltes Leben hatte, das 95 Jahre währte. Er war für mich ein sehr
wichtiger Mensch. In den 1970ern bis 1990ern haben wir viele schöne Wanderungen
miteinander gemacht, an Rhein, Mosel, Lahn und auch an der Weser, so manchen
Schoppen Wein miteinander geleert und zusammen irische Musik gehört. Seine letzten
zwei Lebensjahrzehnte waren von Blindheit durch einen Grauen Star
beeinträchtigt, was ihn nicht von einem weiteren Thema abbringen konnte, dem
Basteln, wie er es bescheiden nannte, von kleinen Truhen, Schachteln, Kästen
mit Intarsien darauf. Dabei muss man wissen, dass er ohne Augenlicht die
verschiedenen Hölzer mit den Fingern tastend auseinanderhalten konnte. So
entstanden wahre Kunstwerke, deren mir liebstes eine Truhe ist, die er noch
sehend anfertige, mit vielen kleinen Schubladen, auf deren jeder eine
mittelrheinische Burg gut erkennbar abgebildet ist und auf einer er selbst, wie
er mit seiner Baskenmütze auf dem Kopf durch die Landschaft wandert, ähnlich wie
auf diesem Foto:

„Wem Gott will rechte Gunst erweisen“. Mein Onkel Hans am 22.03.1985 auf der Koblenzer
Karthause.
Nun wäre er
beinahe gar nicht so alt geworden, nicht weil seine Geburt schwierig gewesen wäre,
sondern weil er als junger Mann, so mit 17-18 Jahren, zur Wehrmacht eingezogen und
im Krieg von einem amerikanischen Geschoss schwer verwundet worden war. Mein
Vater, zwölf Jahre älter als sein Schwager, war zu der Zeit Berufssoldat in
eben dieser Wehrmacht, die einen Angriffskrieg führte. Er war vorgeschobener
Beobachter bei der Artillerie. Seine Aufgabe war es, Feindziele auszumachen,
die Art des Ziels und seine Koordinaten an die Feuerleitstelle weiterzugeben,
die dann das Ganze in Teilring, Rohrerhöhung, Pulverstärke und Geschossart
umrechnete, dass an die Geschützmannschaften weitergab, die darauf hin das Ziel
beschossen: „Ganze Batterie, Feuer!“ Woher ich das so genau weiß? Aus den
Erzählungen meines Vaters? Nein. Ich hatte den gleichen Job in den 1980ern bei
der Bundeswehr. Aber mein Vater erzählte mir was anderes: Er hatte einmal in
Russland ein Dorf beschießen lassen, in welchem sich russische Soldaten
verbarrikadiert hatten (oder auch nicht). Und anschließend ritt er durch das
Dorf, vorbei an einem alten Mütterchen, das am Straßenrand hockte und dessen Haus
er gerade zerstört hatte. Ich habe dieses Bild seit Kindertagen vor meinen
Augen und hoffte immer, nie in eine solche Situation zu kommen. Er wurde dann
auch beschossen, von einem russischen Soldaten mit einer Maschinenpistole, schoss
zurück, tötete den Russen, war selbst nur an der Hand verwundet. Später kämpfte
er in Frankreich, wo ein amerikanischer Tiefflieger ihm sein Pferd unterm
Hintern erschoss. Die russische Maschinenpistolenkugel trug er immer als
Talisman in seinem Portemonnaie. Eines Tages hatte er sie verloren. Kurz darauf
starb er mit 78 Jahren.
Das
Verhältnis zum Militär war bei meinem Vater und bei meinem Onkel zeitlebens
verschieden. Während ersterer sich immer wieder mit seinen Regimentskameraden
traf, war letzterer überzeugter Antimilitarist und Antiamerikaner. Und ich suchte
meinen Weg zwischen beiden. Bei der Bundeswehr war ich, weil ich an das Prinzip
der Abschreckung bei gleichzeitiger politischer Entspannungspolitik glaubte.
Und meines Erachtens wirkte das. Bis 1989. 1989 und die folgenden waren Jahre
der Hochstimmung und der Hoffnung auf einen dauerhaften Frieden. Der kalte
Krieg war beendet. Ich hatte nicht auf meine Cousins in der NVA schießen
müssen. Glück pur!
Allerdings kam
ein neues Feindbild auf: Islamismus (ein umstrittenes Wort) oder vielleicht
besser: eine politische Ideologie bisweilen verbunden mit Terrorismus von
Menschen, die sich auf den Islam berufen. Es folgten Anschläge und Kriege.
Russland spielte dabei keine Rolle. Oder doch? Na ja, wir wähnten sie auf
unserer Seite gegen denselben Feind, auch als in Tschetschenien ein furchtbarer
Krieg tobte. Das liegt doch auch in Europa, oder? Und in (Ex-)Jugoslawien in
den 1990ern tobte ebenso ein furchtbares Gemetzel zwischen Serben, Kroaten, Bosniern,
Kosovaren usw. Von dort kamen auch Geflüchtete nach Deutschland. Dann griff
sogar die NATO ein, ohne UN-Mandat. Wo war nun der erhoffte und geglaubte Frieden?
Ob wohl der Arabische Frühling ihn
brachte? Nein, im Gegenteil. Bis auf Tunesien setzte er sich nicht durch, und
in Syrien herrscht Krieg seit elf Jahren – unter russischer Beteiligung gegen
die Zivilbevölkerung. Auch der Abzug amerikanischer und alliierter Truppen aus
Afghanistan brachte dort keinen Frieden, sondern die Herrschaft der Taliban.
Und doch,
trotz all dieser Kriege, auch in Europa, waren wir geschockt, als am 24.
Februar 2022 – für mich ein Datum, das eigentlich mit dem Geburtstag meines
Patenkindes glücklich belegt ist – die Armee der Russischen Föderation die
Ukraine angriff. Plötzlich fühlen wir den Krieg sehr nahe, weniger als 1000 km
von unseren Wohnzimmern entfernt, wie ich es manches Mal formuliert las. Ja, es
mag wohl die geringe Entfernung sein, die uns diesen Krieg gefährlicher
erscheinen lässt als zum Beispiel der in Syrien. Und er Umstand, dass eine
Atommacht daran beteiligt ist, die jedes Land, das die Ukraine unterstützt, mit
einem Atomschlag bedroht. Deutlich wurde: Der Kalte Krieg war gar nicht vorbei,
sondern schwelte immer wie ein Moorfeuer unter der Grasnarbe. Wladimir Putin
lebt nach wie vor in der alten Zeit vor Gorbatschow. Oder in der noch älteren
von Zarin Katharina der Großen und Zar Alexander III., deren erste, übrigens eine
Deutsche, Russland erobernd vergrößerte und deren zweiter einen Geheimdienst
erfand, der das russische Volk ausspionierte. Im Fernsehen kommen auch immer
wieder Zitate von Putin die zeigen, dass wir es längst hätten wissen können,
wie dieser Knallkopp tickt. Heute war im Siegburg aktuell Newsletter der
Rückblick auf eine Lesung von Udo Lielischkies von 2019, in der es auch schon
klar wurde. Tja, man
hätte … hätte, hätte Fahrradkette.
Wie nun
damit umgehen?
Ich lese
viel, höre viel, rede viel, schreibe viel. Ich versuche, den richtigen Weg, die
richtige Meinung, das richtige Verhalten zu finden.
Das 2002,
kurz vor dem Irakkrieg gestartete Schweigen für Frieden und Gerechtigkeit, das
seit dem monatlich 15 Minuten auf dem Münsterplatz stattfindet und Passant*innen
einlädt, sich zu beteiligen, hatte jetzt im März ca. 50 Teilnehmende.
Normalerweise sind es 5-15, jeden ersten Dienstag im Monat, 17.30-17.45 Uhr. Einer
hatte eine ukrainische Flagge dabei.
Schweigen für Frieden und Gerechtigkeit auf dem Bonner Münsterplatz am
01.03.2022.
Das BIM –
das Bonner Institut für Migrationsforschung und Interkulturelles Lernen – stellt
sich darauf ein, Geflüchteten zu helfen, so wie andere interkulturelle Vereine
und auch viele Privatpersonen.
Religions for
Peace Europa bzw. das European Council of Religious Leaders schickte einen
Brief an Patriarch Kyrill I. von Moskau, in der Hoffnung, dass er sich gegen
den Krieg wendet. Religions for Peace International will nachhaken, wenn keine
Antwort kommt. Es ist auch ein Treffen mit ihm in Planung. In der aktuellen
ZEIT gibt es einen Text von Azza Karam, der Vorsitzenden von RfP International,
über dieses Thema.(Dank an Johannes Lähnemann für den
Hinweis.)
Heute bei „Diesseits
von Eden“ meinte der Ostkirchenfachmann Thomas Bremer, dass man weniger von
einer Instrumentalisierung Kyrills durch Putin sprechen könne, sondern eher von
gemeinsamen, einander unterstützenden Zielen. Und er meinte, Putin glaube eventuell
wirklich daran, böse, nazisitsche Kräfte in der Ukraine zu bekämpfen. Und wer
selbst daran glaubt, ist laut Definition kein Instrumentalisierer.
Aber wer schaut schon in seinen Kopf? Als Religionswissenschaftler habe ich keinen
Blick auf Religionen als immer nur gute Einrichtungen. Und selbst wertend – als
Religionswissenschaftler bin ich trainiert darin, zu sehen, wann ich werte –
bewerte ich seine Religiosität als nationalistisch, sexistisch, homo- und transphob.
Er macht aus diesem Krieg einen weltanschaulichen Kampf des Lichtes gegen die
Finsternis.
Wahrscheinlich rekurriert er dabei auch auf Augustinus. Warum er die Finsternis
nicht in Russland selbst sieht, wo – ein interessanter Begriff, den ich neulich
las – eine Kleptokratie der Oligarchen herrscht, also das krasse Gegenteil vom
Kommunismus, mit dem Putin aufgewachsen ist, mag einem schleierhaft erscheinen.
Letzten
Sonntag sprachen wir auch im Stammtisch der Einzelmitglieder der Deutschen
Buddhistischen Union, einem Online-Gesprächskreis, über diesen Krieg. Mit einem
Teilnehmer, der auch russische Nachrichten sieht, begann beinahe ein Streit
über die Rolle der NATO. Ein anderer Teilnehmer, Alexander, sagte sehr weise,
wir wüssten doch beide nicht, was tatsächlich vor sich gehe, denn keiner von
uns sei vor Ort und beide verließen wir uns auf Medien. Sehr richtig! Es ist
meines Erachtens dabei aber auch eine Frage, welchen Medien man vertraut und
welchen nicht. Einig waren wir uns jedenfalls darin, dass Friedfertigkeit die
optimale Wahl ist. Ob und ab wann und in welchem Maße eine bewaffnete
Verteidigung gerechtfertigt sei, darin waren wir unterschiedlicher Meinung.
Dass man sich auch beim Verteidigen schuldig mache, wenn man einen Menschen
tötet, darin waren wir uns wieder einig. Man sieht, die Diskussion, die in den
christlichen Kirchen geführt wird, treibt auch Buddhist*innen um.
Dass ein militärisches
Eingreifen der NATO einen dritten Weltkrieg provozieren würde, scheint klar.
Und dann wären Menschen, die aus der Ukraine fliehen, auch in Polen, Tschechien
und Deutschland nicht mehr sicher. Und wir haben noch nicht mal Bunker. Ein syrischer
Junge, der bei Lioba von Lovenberg, die bei den GEBETen der Religionen die
Quäker vertritt, zur Hausaufgabenhilfe ist, fragte sie, ob jetzt hier auch
Krieg sei und ob sie hier jetzt nicht mehr sicher seien.
Das Team der
GEBETe der Religionen in Bonn hatte neulich ein Organisationstreffen. Wir beteten
miteinander, ohne Publikum, Adressat eines Gebetes ist für Gläubige ja auch nicht
die Öffentlichkeit. Wobei ich wie Georg Schwikart auch nicht mehr den Glauben
habe, dass dieser Adressat einfach so eingreift, wenn man ihn bittet.
Wenn, dann handelt er wohl doch eher durch Menschen. Und dennoch bete ich jeden
Tag für ein Ende dieses Krieges und für eine Entmachtung der Schuldigen.
Als
Hauptschuldigen mache ich hauptsächlich Putin verantwortlich. So wie bei uns
damals Hitler könnte er das natürlich nicht alleine. Er braucht gläubige
Gefolgsleute (warum auch immer sie ihm glauben), er braucht die Macht,
unschuldige junge Leute in die Schlacht zu schicken, so wie damals meinen Onkel
Hans, er braucht pflichtgetreue Berufssoldaten, so wie damals meinen Vater, er
braucht Ideologen und Medienmacher, die das Volk in seinem Sinne beeinflussen
usw. usf., und dennoch ist es meiner Meinung nach sein Krieg, nicht der Krieg
der Russ*innen als Volk und Staat.
Und da komme
ich noch zu einem letzten, aber auch sehr wichtigen Punkt dieses Rundbriefes:
Russ*innen, Russlanddeutsche, russischsprachige Ukrainer*innen sind nicht die
Schuldigen an diesem Krieg. Sie anzufeinden, weil sie russisch sprechen, ist
eine dermaßen primitive Handlungsweise, so dass ich dazu aufrufen möchte,
dagegen zu wirken, wo immer man das kann! Wer unter diesen Menschen Putin unterstützt,
ist individuell dafür verantwortlich, aber nicht nur seiner*ihrer Sprache und Herkunft
wegen. Putinunterstützer*innen gibt es unter unseren westlichen Quer(ulanten)denker*innen
auch, ohne dass sie russisch wären. Die würde ich zum Querdenken ja gerne mal nach
Russland schicken, dann könnten sie schauen, wie lange sie das dort tun dürfen.
Das Fernsehen, dessen Bildern ich einigermaßen (!) vertraue, zeigt Demonstrationen
in Russland und auch Verhaftungen von Demonstrierenden.
Zuletzt zitiere
ich aus einer E-Mail meines
Religions-for-Peace-Kollegen Achim Kockerols, der mit einem Konvoi unter dem
Roten Kreuz Medikamente nach Kiew brachte:
„Diese
[die Ukrainer; MAS] halten in so einer beeindruckenden Weise zusammen! Meine
Hochachtung! Ohne Hass auf die russische Bevölkerung (die ukrainischen Russen
halten eng mit der ukrainischen Bevölkerung zusammen), in großer Wut auf Putin.“
Herzliche Grüße,
Ihr/Euer
Michael A. Schmiedel
PS: Wenn auch jetzt in den Fußnoten nicht dabei, so höre ich
viel „Tag für Tag. Aus Religion und Gesellschaft“ im Deutschlandfunk, wo es
viele Beiträge zum Ukraine-Krieg und insbesondere der Rolle der Russisch-Orthodoxen
Kirche dabei gibt: https://www.deutschlandfunk.de/aus-religion-und-gesellschaft-100.html
(Geöffnet am 13.03.2022).
Ukrainische und nordrhein-westfälische Flagge auf Halbmast
am 11.03.2022 vor dem Siegburger Finanzamt.
(Text und Fotos von Michael A. Schmiedel, Geschrieben am 13.03.2022 zu Hause.)
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